
Shaolin und die Kampfmönche
Was gibt es über Shaolin und Chen Taijiquan zu sagen? Wenn es um Shaolin geht, so bestimmen bei uns häufig einseitige Vorstellungen das Bild. Dazu gehört zum Beispiel die Idee, dass ein Kampfmönch im alten China automatisch ein Shaolin-Mönch gewesen ist. An dieser Stelle möchte ich daher gerne weiteres Wissen über China und seine Geschichte ergänzen.
In China gab es bis zur letzten Kaiserdynastie immer zahlreiche Kampfmönche, die auch aus unbekannteren Ordensgemeinschaften stammten. Sie waren weitestgehend Vertreter buddhistischer Schulen. Am bekanntesten sind beispielsweise Mönche aus E Mei Shan 峨嵋山 (Provinz Sichuan), dem Wu Tai Shan 五臺山 (Provinz Shanxi) Gebirge oder vom Fu Niu Shan 伏牛山 – Berg [1] die bis zu Beginn der Qing-Dynastie in vielerlei Hinsicht in militärische Konflikte eingebunden waren. Der Yun Yan Si 雲巖寺 Tempel liegt am Fu Niu-Berg und stand eng mit Shaolin im Austausch, um gezielt Söldner für die kaiserlichen Eliteeinheiten auszubilden. Diese Kontingente konnten mehrere Tausend Mann stark sein. Sie waren gefürchtet, ruhmreich, wurden aber von den Kaisern auch als Himmelfahrtskommandos einfach ins Nirwana geschickt. Als tragisches Beispiel wird von Meir Shahar in seinem Buch „THE SHAOLIN MONASTERY“ der einstige Shaolin Mönch und Lehrer Hong Ji von Cheng Zong You 程总有 genannt [2]. Er wurde in der Schlacht getötet, als er im Auftrag, lokale Rebellen zu bekämpfen, an der aussichtslosen Übermacht der vielen Kriegsparteien scheiterte.
[1] Meir Shahar schreibt in seinem Buch „THE SHAOLIN MONASTERY“, S. 79, Kapitel Mount Funiu, dazu, dass es sich um eine Gebirgsregion, die eigentlich zum Song Shan Gebirge zählt, handelt. Hier lebten Minenarbeiter, welche ein hartes, entbehrungsreiches Leben führten. In diesem Milieu gab es schon in der Zeit vor dem Shaolin-Tempel buddhistische Mönche. Der lokale Yun Yan Si 雲巖寺-Tempel stand im Austausch mit Shaolin, das ca. 206 km entfernt liegt.
[2] Shahar, Meir, THE SHAOLIN MONASTERY, Kapitel „Fist Fighting and Self-Cultivation “, S.188, 2. Abs., Zeile 9

Chinas Kultur der Wandermönche
Um sich ein umfassenderes Bild zu machen, sei ein Blick auf die Bezeichnung Dao Ren 道人, häufig « taoistische Gelehrte, Emeriten oder taoistische Mönche », gerichtet. Der Ausdruck wurde je nach Epoche und Region auch in der Bedeutung von « Wandermönch » geführt, also ungeachtet von einer Religion oder Weltanschauung. Häufig handelte es sich um buddhistische Mönche, taoistische Mönche oder Wanderärzte. Gleichzeitig waren viele in Kampfkunstfertigkeiten bewandert. Schließlich hatten sie zuvor alle ein weltliches Leben geführt und wussten ein gewisses Maß an Wehrhaftigkeit zu schätzen. Taoistische Mönche übten vielfach ebenfalls Kampfkünste, die in der Bevölkerung verbreitet waren, an abgelegenen Orten aus. Kenntnisse über militärische Kampfkünste hatten jene, die vielleicht zuvor in ihrem Leben bei der Armee oder bei Aufständen in Rebellenkreisen ihre Zeit verbrachten.
Diese Art von Menschen wanderte also in China seit jeher quer durch das riesige Land. Unter buddhistischen Kreisen waren die vier heiligen Berge des Buddhismus Wu Tai Shan, Pu Tuo Shan 普陀山 (Provinz Zhejiang), E Mei Shan und Jiu Hua Shan 九華山 (Provinz Anhui) ein Hauptreiseziel oder man besuchte befreundete Ordensbrüder in einem anderen Tempel. Darüber hinaus kam es auch zu Pilgerreisen nach Indien „in das reine Land“, die Heimat des Buddha. Für die Taoisten gibt es in China ebenfalls fünf heilige Berge, den Tai Shan 泰山 (Provinz Shandong), Heng Shan 衡山 (Provinz Hunan), Hua Shan 華山 (Provinz Shaanxi), Heng Shan 恆山 (Provinz Shanxi) und das Song Shan 嵩山 (Provinz Henan) – Gebirge [1] die einen Anziehungspunkt für zahlreiche Wandermönche ausmachen. Nebenbei sei angemerkt, dass sich ausgerechnet der Shaolin-Tempel im Song Shan-Gebirge, einem dieser heiligen Gebirge der Taoisten, befindet.
Dazu kommt, dass es in ganz Asien seit jeher verbreitet ist, sich auf ein Ordensleben auf Zeit zu binden. So ließen immer wieder viele Menschen ihr spirituelles Leben hinter sich und kehrten wieder in ihre alte Heimat zurück, wo sie vielleicht eine Familie gründen wollten. Die Beweggründe, auf Wanderschaft zu sein, waren je nach Umständen vielschichtig. Wenn man all diese Routen mit einem Faden über China legt, ergibt sich ein dichtes Spinnennetz. Damit lassen sich gleichzeitig die Wege des Bildungsaustausches und die permanenten Möglichkeiten, Kampfkünste zu verbreiten, aufzeigen. Aus Berichten ist bekannt, dass Heimkehrer häufig eine Kampfkunstschule begründeten. Der gute Ruf von Shaolin war ab der Ming-Dynastie bereits in weite Bevölkerungsschichten vorgedrungen und hilfreich. Jene Meister, welche nun die strikten Auflagen des Lebens aus der inneren buddhistischen Ordensgemeinschaft nicht mehr einhalten mussten, trugen wesentlich dazu bei, dass es heute so viele Gongfu-Schulen gibt, die sich als Shaolin-Stile bezeichnen. Im Grunde gibt es eigentlich keine Shaolin-Stile. Die Auseinandersetzungen mit der Außenwelt von Shaolin hatten vor allem seit der Gründung bis zur Ming-Dynastie einen rein militärischen Hintergrund, der mit den typischen Waffen wie langer Speer usw. ausgelebt wurde. Dennoch wurden im Shaolin Kloster alte Kampfkünste aus dem Volk, die häufig von Wandermönchen mitgebracht wurden, weitergepflegt und konserviert. Dieser Fundus speiste sich auch aus ehemaligen Soldaten, Personen, die vor juristischer Verfolgung Unterschlupf suchten, oder betagten Kampfkünstlern, die in den Tempel kamen, um sich dem Ordensleben anzuschließen. Darunter gab es immer Menschen mit Fertigkeiten, die man als lohnenswert erachtete, weiterzupflegen. Man muss wissen, dass verfolgte Personen meistens den juristischen Vollmachten auf Provinzebene ausgesetzt waren. Um sich einer drohenden Strafe zu entziehen, tauchte man häufig ab, indem man die Provinzgrenze überschritt und sich in einem taoistischen oder buddhistischen Tempel niederließ. Den Verfolgungsbeamten war somit der Zugriff per Gesetz nicht erlaubt.
Für den Shaolin-Tempel offenbarte sich die Kultur des Pilgerns und Wandern über die Geschichte hindurch als ein Glücksfall: Es zeigte sich, dass es fast unmöglich war, die Shaolin-Mönche auf einem Schlag auszulöschen. Wenn ihr Tempel oder ihre Söldnertruppen zerstört wurden, so dauerte es keine 10 Jahre, bis der Shaolin Tempel zuerst von Heimkehrern wieder bewohnt und später neu aufgebaut wurde. Einzelne konservierte alte Kampfkünste konnten zwar durch eine Zerstörung und die Tötung der residierenden Mönche nicht gerettet werden, doch war immer ein Teil des Vermächtnisses im Land unterwegs und diente so zugleich als Backup. Der Verlust einzelner Kampfkunstüberlieferungen ließ sich außerdem durch das erneute Auflesen während gezielter Wanderschafften kompensieren. Dieses Prinzip bewährte sich mehr als 1500 Jahre lang, denn in der Geschichte dauerte es meistens nach einer Tempelzerstörung nicht lange, bis eine neue Generation von Shaolin-Mönchen wieder mit ausgezeichneten Fertigkeiten zur Verfügung stand.
[1] Genannt: Großer mittlerer Gipfel 中岳, klassisch: 中嶽 Zhōng Yuè; Interessant ist, dass genau hier der Shaolin Tempel steht, was erklärt, warum viele lokale Gebräuche oder Gottheiten aus dem Taoismus in die Mythologie um Shaolin eingeflossen sind.

Ausstrahlung und Blütezeit waffenloser Kampfkünste in China
Shaolin hat viele sehr alte Kampfkunstschulen vor dem Aussterben über Jahrhunderte hinweg bewahrt. Das ist einzigartig auf der Welt. Landesweit gab es in China aber erst ab der Ming-Dynastie vermehrt waffenlose Kampfkünste. In historischen Schriften wie bei dem Ming-General General Qi Ji Guang 戚繼光 werden sie meist unter Bezeichnungen wie Quan Fa 拳法 « Boxkunst/waffenlose Kampfkunst » zusammengefasst erwähnt. Zuvor wurde vorrangig auf militärische Weise und mit Waffen gekämpft. In der anschließenden Qing-Dynastie begannen dann die waffenlosen Kampfkünste plötzlich zu florieren. Im Königreich Ryūkyū 琉球 (1609–1879) [1] entstand für diese Strömungen der Sammelbegriff Tang Shou 唐手 « anziehende Hände », welcher später nach der Vereinigung mit Japan und dem Bestreben, chinesische Einflüsse auszublenden als Kong Shou Dao 空手道 « der Weg der leeren Hand » [2] , also dem Karate, Furore machte. Shaolin konnte sich dabei wieder in ein besonders gutes Licht rücken, da man ja im waffenlosen Kampf, verglichen zum Kampf mit Waffen, den Gegner nicht so schnell töten kann. Dazu kam, dass man Lebenspflegebelange und medizinische Kenntnisse aus der TCM schätzen gelernt hatte und sie als Teil in die eigene Kampfkunst integrierte. Somit wurde auch das mystische Thema um gefährliche oder gar tödliche Akupunkturpunkte ein wichtiges Teilgebiet. All diese Aspekte waren neu und verhalfen den chinesischen Kampfkünsten zu einer nie dagewesenen Blütezeit.
Wenn ich mich an meine erste chinesische Kampfkunst erinnere, die ich früher lernte, so wurde gesagt, dass das « Gottesanbeterin Gongfu » Tang Lang Quan 螳螂拳 ein Shaolin-Stil ist. Der Begründer Wang Lang 王朗 hatte auf seiner Zeit als Wandermönch dazugelernt und durch das Observieren der Gottesanbeterin Inspiration erfahren. Geduldig arbeitete er daran, die schnellen, schnappartigen Fangbewegungen des Insektes zu studieren, an die Anatomie des Menschen anzupassen und mit anderen Kämpfern zu testen. Für Fälle wie diesen kann man sagen, dass es sich tatsächlich um einen Shaolin-Stil handelt, der mit Hilfe alter Volkskampfkünste aus Shaolin, der Beobachtungen aus der Natur heraus und hingabevollem Experimentieren und Studieren entstanden ist. Nebenher lässt sich an dieser Stelle vielleicht auch der sagenumworbene südliche Shaolin-Tempel in der Provinz Fujian besser verstehen. Von Forschern wurde seine historische Existenz verneint. Aber warum sollte sich in der entsprechenden Region nicht einer der Wandermönche mit Kampfkunstfertigkeiten von Shaolin hier oder anderswo niedergelassen haben, um Kampfkunst zu unterrichten? Letztendlich ist dies doch offensichtlich an vielen Orten in China passiert. Im Gedenken daran hat sich vielleicht in der lokalen Bevölkerung die Vorstellung verbreitet, dass jetzt auch bei Ihnen in der Heimat Shaolin-Mönche oder zumindest die Kampfkunst-Essenz jener Mönchskultur unterrichtet und überliefert wird. Diese Vorstellung erscheint mir jedenfalls plausibel. Wer sich neben den Volksmundlegenden um Shaolin wirklich für die Geschichte um Shaolin interessiert, dem empfehle ich, das zuvor genannte Buch (auf Englisch) von Meir Shahar zu lesen. Weiterhin gibt es von mir eine Übersetzung mit dem Buchtitel 長鎗法選 « Langer Speer der Ming-Zeit – König unter den Waffen » von Shaolin Mönch 程宗猷 Cheng Zong You. Dabei handelt es sich um ein Arbeits- und Studienbuch, womit sich der Übergang von den Waffen zu den neu aufkommenden waffenlosen Kampfkünsten in China besser untersuchen lässt.
[1] Die Inselgruppe, einschließlich Okinawa, war einst ein unabhängiger Staat von Japan, der zeitweise expandierte und durch temporäre Eroberungen auf dem chinesischen Festland tiefer von der chinesischen Kultur beeinflusst wurde.
[2] Am 25. Oktober 1936 wurde auf dem Karate-Symposium in Naha unter dem Einfluss des japanischen Militarismus offiziell der Beschluss gefasst, den Namen von „Tang Shou“ in, japanisch, „Kashou“ (also zu 空手) zu ändern – Quelle: https://zh.wikipedia.org/wiki/%E7%A9%BA%E6%89%8B%E9%81%93 unter Überschrift 空手道的誕生

Chen Taijiquan aus Chenjiagou, im Kreis Wen der Provinz Henan
Wäre ein fortschrittlicher chinesischer Feldforscher in den 30er Jahren des 19. Jht. nicht losgezogen, um nach der Herkunft und Entstehung chinesischer Kampfkünste zu suchen, würden wir wohl heute noch alle mit Kindskopfgeschichten um Zhang San Fang oder anderen Albereien glücklich und zufrieden sein müssen. Tang Hao 唐豪 schaffte es durch seine Bemühungen, den Kampfkunstkreisen in großen Städten etwas mehr nachprüfbares Wissen zu vermitteln. Das berührte auch Shaolin und das Chen Taijiquan. Wenn auch viele seiner Thesen bis heute nicht bewiesen sind, so kann man aber sagen, dass er mit der Region um den Kreis Wen 溫县 ein wichtiges Zentrum ausfindig gemacht hat, das bei der Entwicklung des Taijiquan eine entscheidende Rolle gespielt hat. Der Ort Chenjiagou 陳家溝 wurde von ihm 1931 besucht und in seinen Schriften erwähnt, ebenso wie der Shaolin-Tempel.
Das Taijiquan ist vorrangig eine waffenlose Kampfkunst, in der ein reichliches Repertoire an alter Waffenkunde mit überliefert worden ist. Der Entstehungszeitpunkt reicht in die Zeit zu Beginn der Qing-Dynastie (um 1644) und geht einher mit dem Zeitgeist und aufkommenden Trends von Schulen, die als waffenlose Kampfkünste bekannt wurden. Diese Feststellung wird meistens übersehen, was nicht automatisch bedeutet, dass das Taijiquan auf reiner Grundlage von Shaolin-Boxen entstanden ist. Es scheint vielmehr so, dass sowohl das Shaolin-Boxen als auch das entstehende Taijiquan seiner Zeit von ähnlichen Veränderungen in der chinesischen Gesellschaft beeinflusst und befruchtet worden ist. Dazu gehören die Yang Sheng-Lebenspflege, die TCM und taoistische Atem- und Leibesübungen bis hin zu philosophischen Grundlagen der Yin-Yang-Theorie.

Austausch zwischen Shaolin und dem Kreis Wen
Wenn wir uns die geografische Lage von Chenjiagou ansehen, so beträgt die Distanz zwischen Shaolin und Chen Taijiquan ca. 75 km. Diese Entfernung war in alten Zeiten zu Fuß in zwei Tagen zu bewältigen gewesen. Es ist gut möglich, dass auch Familienangehörige aus dem Chen-Klan nach Shaolin gegangen sind, um hier als ordinierter Mönch oder externer Mönch, sprich Kampfmönch, eine Ausbildung zu durchlaufen. Wäre dies der Fall gewesen, hätte es für die Betreffenden vermutlich einen Grund gegeben, der sie daran gehindert hätte, zuhause eine Kampfkunstschule zu eröffnen, die auf Shaolin Bezug nimmt. Shaolin stand lange Zeit auf der Seite der Ming-Dynastie. Die nachfolgende Qing-Dynastie verhielt sich fast durchgehend skeptisch gegenüber Shaolin, weil man ihnen nicht traute. Daher hätte es Nachteile mit sich bringen können, zu sagen, dass man ein Vertreter der Shaolin-Kampfkunst ist. Dieses Szenario ist eine rein hypothetische Überlegung, denn im Chen Klan gab es schon seit Beginn der Ming-Dynastie eine eigene familieninterne Kampfkunstüberlieferung, die man schon aus Verehrung gegenüber den Ahnen nicht in Konkurrenz zu Shaolin gestellt hätte.

Geleitschutz – Kampfkunst und der Chen Klan
Was wir über den Chen-Klan wissen, besteht aus Puzzlestücken, die uns helfen, darzulegen, mit welchen Kampfkünsten der Klan in Berührung gekommen ist. Eine Quelle sind die Informationen, welche besagen, dass Chen Chang Xing 陳長興 (1771-1853), um ca. 1810 und andere Klan-Angehörige ihren Lebensunterhalt im « Gewerbe, als Geleitschutz und Personenschützer » Biaoju 鏢局 bzw. 標局 [1], also « Kampfkunstmeister im Sicherheitsdienst » Biaoshi 鏢師, nachgegangen sind [2]. Dafür musste man Mitglied in einer der landesweit zugelassenen Gilden sein, die ab ca. 1735 als formelle Unternehmen entstanden. Die älteste bekannte Unternehmung war Xinglong Biaoju 興隆鏢局. Dieser Trend ging von der Shanxi-Provinz aus, wo die Kaufleute ihr Vertrauen vorrangig auf Kampfkunstmeister in der Bevölkerung richteten. Sie schienen kompetent für so eine Aufgabe zu sein, da sie dafür einen Ruf oder gar ihr Gesicht zu verlieren hatten. In der Provinz Henan waren die Biaoshi häufig aus den Stilen des Xinyiquan, wie beispielsweise dem Dai-Klan 戴, in diesem Berufsstand anzutreffen [3].
Je nach Gesellschaft gab es ein mehr oder weniger spezifisches Repertoire an Kampfkünsten, die zum Einsatz kamen. Am bekanntesten sind « Wurfklinge », « neungliedrige Peitsche » Jiu Jie Bian 九節鞭, « Speer », « Schwert », « waffenloses Boxen » Quan Fa 拳法, « Ringen » Shuai Jiao 摔跤, das « drei Kaiser-Kanonenfaustboxen » San Huang Pao Chui 三皇炮捶 oder « 108 Sets aus dem waffenlosen Boxen », wie sie Kasao Kyôji in seinem Artikel « « Die Welt der Biaoju » (1997) beschrieben hat [4]. Wer in so einem Umfeld gearbeitet hat, wird daher auch einiges aus den zuvor genannten Fertigkeiten erlernt haben. Besonders in der Shanxi-Provinz gab es das Problem der verbreiteten Brigaden, die sich häufig mit kriminellen Machenschaften in Verbindung bringen ließen. Besonders sie machten den Kaufleuten auf den Handelswegen zu schaffen. Die Biaoju sollten sie vor Ihnen schützen. Dennoch war es in der Praxis so, dass diese Brigaden auf beiden Seiten ihren Zweck erfüllen konnten. Es wäre daher denkbar, dass ein Chen Chang Xing auch ein Mitglied einer Brigade gewesen sein könnte und man seine Tätigkeit im Nachhinein erst als Biaoju deklarierte. Weiterhin gibt es wiederum Berichte von korrupten Biaoju, wobei man also eine saubere Trennung zwischen Verteidigern und Banditen hier nicht immer mit Sicherheit ziehen kann.
[1] Formell zugelassene Unternehmen, die den Geleitschutz für Gütertransporte oder zum Personenschutz bereitstellten. Der Begriff wurde erst seit der Republik China im Nachhinein verbreitet. Zuvor war von Zhang Hei Wu 張黑五 die Rede. Quelle: HAL Id: hal-01987402 https://hal-amu.archives-ouvertes.fr/hal-01987402 , Submitted on 21 Jan 2019
[2] Eine kurze Erwähnung diesbezüglich findet sich auch in einem Artikel über Chen Chang Xing bei Nabil Ranné: https://ctnd.de/ueber-uns/abstammungslinie.html, Zeitstempel 10. Feb 2022
[3] Quelle: HAL Id: hal-01987402 https://hal-amu.archives-ouvertes.fr/hal-01987402 , Submitted on 21 Jan 2019, S. 140, Absatz 3
[4] Dieser Artikel ist nur auf Japanisch erschienen. Dr. Julian Braun hat mir dankenswerterweise eine Übersetzung dazu zur Verfügung gestellt.

Militär – Kampfkunst und der Chen Klan
Der Vater von Chen Bu 陳卜 war ein Soldat im niederen Rang. Dies ist ein Hinweis darauf, dass Waffenhandhabe aus dem Militär so innerhalb des Klans weiter überliefert werden konnte. Leider wissen wir nicht genau, um welche Waffenhandhabe es sich dabei gehandelt hat. Das gleiche gilt für die Zeit um 1641 für Chen Wang Ting 陳王廷. Von ihm ist lediglich überliefert, dass er einen militärischen Abschluss erworben hat. Seine Existenz stützt sich auf einen einzigen Eintrag im Wen Xian Zhi《温县志》« Die chronischen Aufzeichnungen des Kreises Wen » [1], in dem er als ein lokaler Kommandant erwähnt wird, der im Auftrag der Ming-Armee agierte. Es liegt daher nahe, dass dadurch wenigstens Hellebarde, Langer Speer und Säbel aus dem Ming-Militär in die Kampfkunst des Chen-Klan eingeführt wurden, wobei eine genaue Datierung nicht möglich ist. Auffällig ist, dass all diese Waffen in allen anderen chinesischen Kampfkunststilen, die seit der Qing-Dynastie bekannt wurden, heute ebenso überall vorhanden sind.
In den Nachbardörfern von Chenjiagou gibt es ähnliche Kampfkünste und verschiedenste Arten des Pao Chui 炮捶 « Kanonenfaustboxen » plus Waffenschulen, wie den Wangbao Speer 王堡槍. Denkt man über Jahrhunderte hinweg, so ist es unwahrscheinlich, dass nicht irgendwann ein Austausch unter den regionalen Kampfkunstsystemen stattgefunden hat. Man bedenke dabei, dass das Taijiquan, das wir heute seit ca. 1930 kennen, sich erst ab ca. 1644 begonnen hat, in diese Richtung zu entwickeln. Diese Entwicklung muss auf irgendetwas aufgebaut haben und Inspiration von außen zugelassen haben. Wie sollte eine Entwicklung sonst möglich sein? In der Region gab es schon immer Rebellionen und Konflikte mit mächtigen Kriegsfürsten, welche Teile der Landbevölkerung zwangen, Partei zu ergreifen oder sich gemeinsam in einer Art Bürgerwehr zu organisieren. Diese Umstände selbst sprechen dafür, dass es einen Austausch und gegenseitige Unterweisung in Kampfkünsten gegeben haben muss. Obwohl ich vieles, was über Chen Wang Ting gesagt wird, für Legenden und historisch nicht plausibel halte, sei dennoch auf eine Tatsache hingewiesen. Wenn man Chen Wang Ting als formgebenden Gestalter des Chen Taijiquan betrachtet, so kommt man nicht an der Tatsache vorbei, auch seinem Begleiter Jiang Fa 將發 [2] eine ebenwürdige Rolle zu zugestehen. Schließlich kann man eine praktisch verwertbare Kampfkunst nicht alleine entwickeln. Dazu bedarf es mindestens zwei Personen, die sich auf einem ähnlichen Niveau befinden.
[1] Unter Wu Cong Hai Chuan 吴从海传 « Die Überlieferungen von 吴从海 Wu Cong Hai » steht geschrieben: „1641 befand sich 陈王廷 Chen Wang Ting in der Garnison der Heimatschutzsoldaten, befehligte die Soldaten der Dörfer und schloss sich dem Kreis Magistrat Wu Cong Hai an, um Vergeltungsschläge gegen die in den Städten herumstreifenden Banditen zu unternehmen.“; Quelle: Gu Liu Xin 顾留馨, Buch Taijiquan Shu 太极拳术 « Die Kunst des Taijiquan », ISBN 978-7-5444-4023-3, Reprint Verlag 人民体育出版社, 北京 Beijing, Ausgabe 2016, S. 370, Zeile 9
[2] Siehe die Schrift Chen Shi Jia Sheng 陳氏家乘 von Chen Xin 陳鑫 als Anlagetext von seinem Buch 陳氏太極拳圖說 « Kommentare zu den grafischen Erläuterungen zum Taijiquan des Chen-Clans » unter den biografischen Notizen zu Chen Wang Ting 陳王廷 wird etwas zu Herrn Jiang 將 gesagt.

Selbstauskunft im Chen Klan
Chen Xin selbst schreibt über die Herkunft des Taijiquan [1], dass es die Kunst schon früh im Klan gegeben hat, sogar schon als der Klan mit Chen Bu um 1375 in Chenjiagou ansässig wurde [2]. Dies impliziert, dass mindestens « Das 108-Langfaustboxen » im Chen-Klan tatsächlich aus der Zeit um 1372 vom Kreis Hong Dong Xian 洪洞縣 [3] mitgebracht wurde.
Es gibt zahlreiche Einzelbeobachtungen, wie zum Beispiel das Hong Quan 紅拳 « Hong-Faust » das in Shaolin und auch im Chen Taijiquan existiert. Das bedeutet aber nicht, dass die « Hong-Faust » der eine dem anderen gelehrt haben muss. Shaolin ist schließlich ein Sammelbecken für Kampfkünste aus dem Volk und hat die « Hong-Faust » nicht erfunden. Die Wege und vielleicht auch Veränderungen durch die Überlieferungen wie die « Hong-Faust » nach Shaolin oder Chenjiagou gekommen ist, sind vielleicht eigenständig und verschieden vonstatten gegangen. So kommt es, dass beide Orte in ihren Ressourcen auf gleiche oder ähnliche Quellen zurückgegriffen haben, um ihre Kampfkunst zu entwickeln. Dennoch ist Shaolin, was als Reservoir-Kammer der chinesischen Kampfkünste angesehen werden kann, mit hoher Wahrscheinlichkeit eine befruchtende Inspiration für die Entwicklung des Chen Taijiquan gewesen. Es ist unwahrscheinlich, dass Menschen aus dem Chen-Klan von Chenjiagou über Jahrhunderte hinweg nicht mit Wandermönchen oder Kampfmönchen in Kontakt gekommen sind. Sie waren in der Region immer unterwegs und aktiv, da die kaiserlichen Armeen ständig damit beschäftigt waren, Rebellen und regionale Kriegsherren niederzuschlagen. Die reine geografische Distanz von Chenjiagou zu Shaolin spielte eine untergeordnete Rolle, weil die Einflüsse durch Shaolin von sich aus in das Leben der Bevölkerung zurückflossen. Früher oder später konnte man Wandermönche treffen oder sich von einem Kampfmönch zur Soldatenausbildung für die kaiserliche Armee rekrutieren lassen.
[1] Dies ist die einzig bekannte freie Aussage aus dem Chen-Klan selbst. Alle neueren Aussagen haben immer einen politisch konformen Anstrich bekommen. Überhaupt sollte man darüber nachdenken, warum eigentlich jedes Detail, das man über die eigene Familiengeschichte weiß, unbedingt der breiten Masse mitgeteilt werden soll. Für das mediale Blablabla genügt es, Aussagen von Außenstehenden einfach nicht zu widersprechen, um seine Ruhe zu wahren und sich politisch nicht angreifbar zu machen.
[2] Quelle: http://www.chinafrominside.com/ma/taiji/TJQorigins.html, PART ONE – SETTLING DOWN IN CHANGYANG VILLAGE, übersetzt und kompiliert von Jarek Szymanski , das 7. Regierungsjahr von Kaiser Hong Wu = 1374
[3] Der Kreis liegt in der Shanxi Provinz. Diese alte Kampfkunst ist in Taiyuan, der Provinzhauptstadt, wiederum unter der Bezeichnung Tong Bei Quan 通背拳 bekannt.

Zusammenfassung
Shaolin und Chen Taijiquan kann man aus zwei Perspektiven betrachten. Einmal wusste man bis ca. 1860 mit Sicherheit in Shaolin nichts über eine Kampfkunst aus dem Chen-Klan [1]. Möglicherweise hat man erst nach 1980 durch das aufkommende Fernsehen und Printmedien das Chen Taijiquan kennengelernt. Die historischen Umstände in der Republikzeit ab 1911 und nach Gründung der VR China sprechen tatsächlich dafür. Es gab mehrere Tempelzerstörungen und anschließende Verbote für die Kampfkunst und buddhistische Lehre. Damit einher wurde auch die Tradition der Wandermönch-Kultur in der Moderne über Jahrzehnte ausgelöscht. In den biografischen Chroniken aus dem Chen-Klan [2] werden über die Generationen hinweg immer wieder Einzelpersonen mit ausgezeichneten Kampfkunstfertigkeiten und Heldenmythen erwähnt. Meist handelt es sich um lokale Episoden und Einzelereignisse. Lediglich Chen Ji Shen 陳季甡 und Chen Zhong Shen 陳仲甡 bildeten eine Ausnahme. Daher ist es nicht verwunderlich, dass Chen-Klan Taijiquan überregional sehr lange eine verborgene Kunst geblieben ist.
Im Chen-Klan wissen wir durch das Aufkommen der Schriften von Chen Xin (1849-1929), dass Shaolin im Klan bekannt und respektiert worden ist. In Chen Xins Kampfkunstnotizen tauchen immer wieder Texte auf, die ehrfürchtig von Shaolin berichten. Er selbst hatte auch ein starkes Wohlgefallen an der buddhistischen Lehre empfunden. Davon zeugt die deutsche Übersetzung seines Werkes « Kommentare zu den grafischen Erläuterungen zum Taijiquan des Chen-Clans » durch Hermann Bohn. Die Fußnoten im Buch sind mit unzähligen Fachtermini wie „Samadi“ und anderen buddhistischen Floskeln gespickt. Das steht im Gegensatz zu anderen Autoren, die selbst Chen Taijiquan unterrichten und großen Eifer aufbringen, um das Werk von Chen Xin in einem taoistischen Kontext zu vereinnahmen. Was Shaolin und Chen Taijiquan angeht, so ist es heute interessant, Shaolin-Mönche zu sehen, die auch Taijiquan betreiben. Vielleicht handelt es sich nur um Performance-Erscheinungen? Aber wer weiß, das Potential und der historische Kontext jedenfalls würden dafür sprechen, dass sich hier möglicherweise noch verborgene Schätze bergen ließen.
[1] In den kaiserlichen Archiven wurden Auszeichnungen für Chen Ji Shen und Chen Zhong Shen festgehalten, welche sich bei der Bekämpfung der Nian-Rebellion zwischen 1855 und 1865 Verdienste erworben hatten. Ihre Aktivitäten reichten bis in weite Gebiete der Provinzen Henan, Shanxi und Shandong. Ihre Namen als führende Befehlshaber erlangten eine hohe Reputation, wodurch sicherlich ihre Namen in Shaolin-Kreisen als Anführer von Bürgerwehren zur Heimatverteidigung bekannt wurden. Andererseits ist zu bezweifeln, dass damit gleichzeitig der Klan seine eigene Kampfkunst in Shaolin einen Bekanntheitsgrad erlangte.
[2] Siehe die Schrift Chen Shi Jia Sheng 陳氏家乘von Chen Xin 陳鑫 als Anlagetext von seinem Buch Chen Shi Taijiquan Tu Shuo 陳氏太極拳圖說 « Kommentare zu den grafischen Erläuterungen zum Taijiquan des Chen-Clans ».
19. Feb 2022, von J. Weinbrecht