ISCT-Festival 2024 – Espresso oder Cappuccino?
Vom 25.04.24 bis 28.04.24 strömten Chen-Taijiquan-Fans aus aller Welt nach Neapel zum ISCT-Festival 2024, um bei Meister Chen Peishan Taijiquan zu üben und zu lernen. Von Anfängern (wie ich es einer bin) bis zu langjährig Übenden waren etwas mehr als 100 Menschen zusammengekommen. (ISCT – International Society
of Chen Taijiquan)
ISCT-Festival am ersten Tag
Vormittags übten wir auf dem ISCT-Festival 2024 die Sizheng-Form, eine Kurzform, die Meister Chen Peishan erarbeitet hat, um den Zugang zum Taijiquan zu vereinfachen. Grund dafür waren wohl die kleinen Wohnflächen in Japan, weshalb seine Schüler nicht genug Platz zum Üben hatten – denn die lange traditionelle Form benötigt viel Raum. Charakterisierend für die Sizheng-Form sind große Bewegungen. In der langen Form sind sie eher kompakter. Chen Peishan ließ uns einen Teil als Großgruppe laufen. Man spürt seine Aufmerksamkeit und Anwesenheit in der gesamten Turnhalle. Mit viel Witz und Humor erklärt er, auf was wir achten sollen, zeigt die Bewegung und lässt uns danach wieder ausprobieren. Obwohl es kognitiv und physisch schnell sehr anstrengend wird, spüre ich in mir doch eine Leichtigkeit, die mich durchhalten lässt.
Woher die wohl kommt?
Es scheint fast so, als trägt der Meister den Raum, in dem er unterrichtet. Vielleicht liegt es aber, auch daran, dass er uns kurze Pausen machen lässt, damit man mal durchatmen kann.
Sizheng-Form mit Schwert
Bevor es in die Mittagspause geht, werden Schwerter und Übungsstöcke verteilt. Ich selbst habe zum ersten Mal ein Schwert in der Hand und kaum Ahnung, wie ich mich bewegen soll. Optimistisch und nicht allzu streng mit mir selbst laufe ich die Sizheng-Form, also mit Schwert.
Dabei orientiere ich mich an den Menschen, die vor mir stehen und offensichtlich mehr Erfahrung und Ahnung haben. Trotzdem ist es schwer, mitzuhalten und auf die Anweisungen des Meisters einzugehen. In kurzen Sequenzen dazwischen nimmt sich Jens die Zeit und zeigt mir hier und da, worauf ich achten kann und sollte. Dankbar nehme ich die Tipps an, denn auch er ist schließlich hier, um sich weiterzubilden. Somit kann ich mich mit ein, zwei Dingen mehr auseinandersetzen.
Am Nachmittag geht es in einer Turnhalle im anderen Stadtteil weiter. Davor treffen wir uns immer wieder auf kleine Socials.
Das Hin- und Herpendeln ist nicht unbedingt ein Genuss, aber irgendwie zu schaffen. Man ist schließlich nicht zum Spaß hier, sondern um sich auf die richtige Art zu entspannen!
Die lange Hauptform heißt Yi Lu
Nun laufen wir die lange Form, die Yilu. Auch hier beobachtet uns Meister Chen Peishan konzentriert. Danach kritisiert er mit einem Lächeln auf dem Gesicht die gesamte Gruppe: „Wie ich heute früh schon sagte, ihr lauft alle so schön! Eure Schritte (er macht eine große, künstlerisch schwungvolle Bewegung mit dem Bein) sehen toll aus! Das ist aber nicht, worauf es ankommt. Taiji ist simpel. Es ist wie beim Kaffee – der Cappuccino mit seinem Milchschaum sieht wunderschön aus, aber was ihr braucht, ist komprimierter Kaffee. Espresso. Also fragt euch selbst – will ich Cappuccino oder Espresso sein? Schön aussehen oder echt sein?“ Das trifft die Anwesenden. Ich schaue mich im Raum um, viele in sich gekehrte Gesichter und auch viele wissend Lächelnde. Die Sequenzen mit den Schritten lässt uns Chen Peishan wieder und wieder wiederholen. Wir schaffen es bis zum Abend, vom Kopfschütteln und „Alles stopp“ zu einem leichten Kopf hin und her wälzen mit den Worten „Naja, es wird besser“.
Quintessenz
Seine Art zu unterrichten ist sehr sympathisch, humorvoll und sehr motivierend. Kritik trägt er nicht an den Einzelnen heran, sondern in den Raum hinein. Er ist festhaltend dabei, aber nicht erzwingend, und verkörpert durch und durch seine Sache. Dabei hat jeder das Gefühl: „Genau das war, was ich heute gebraucht habe.“
Abends muss man in Neapel unbedingt Pizza essen gehen – dafür ist die Stadt bekannt! Herrlich fluffiger 24-h-gereifter Hefeteig, dünn ausgerollt und mit wenigen aber guten Zutaten belegt, ab in den heißen Ofen für zwei Minuten. Das tut nach so einem Tag richtig, richtig gut, aber vor allem die Gesellschaft macht es zu einem gelungenen Abend.
Am zweiten Tag
Wir treffen uns wieder alle zusammen in der ersten Turnhalle. Auf dem Hinweg zum ISCT-Festival 2024 unterhielt ich mich mit einem netten Japaner, der mir verriet, dass er schon seit 30 Jahren Chen Taiji praktiziert. Er schmunzelte auf liebe Art, als ich ihm sagte, ich wäre seit einem Jahr dabei. Daher ist es nicht gerade einfach, sagte auch der Meister, alle gleichzeitig zu unterrichten. Taijiquan zu üben ist ein Prozess, der nach und nach aufeinander aufbaut. Was man im Körper noch nicht verinnerlicht hat, kann man eben noch nicht so gut verstehen. Wir wärmen uns gemeinsam auf. Danach wird die Gruppe in Anfänger und Fortgeschrittene unterteilt. Uns Anfänger unterrichtet somit der Sohn von Chen Peishan, Chen Shaohua. Er ist jung, athletisch und macht einen sehr disziplinierten, aber dennoch entspannten Eindruck. Augenmerk ist der erste Teil. Der Yilu. Er gibt viele Hilfestellungen und Tipps.
Tuishou-Partnerübungen
Nach der Mittagspause geht es weiter, wieder in der zweiten Turnhalle, wie gestern. Tuishou-Partnerübungen stehen auf dem Programm. In Nürnberg haben wir das schon ein paar Mal gemacht, dennoch machte sich Unsicherheit in mir breit.
Sämtliche Menschen im Taiji, die ich bisher kennenlernen durfte, sind unfassbar feinfühlig und offen. Wenn also ein verirrtes Küken wie ich völlig hilflos im Raum steht, wird man nie allein gelassen.
Die Hilfe, die ich bekam, war sehr lehrreich. Einerseits macht es einen sehr demütig, zu wissen, wie viel Luft nach oben ist. Andererseits ist die humorvolle und gutmütige Art und Weise der Lehrenden sehr motivierend.
Fix und fertig – aber auch dankbar und froh saß ich danach eine ganze Weile am Rand der Tribüne. Scheinbar mühelos übten Sie weiter.
Am dritten Tag
Heute übten wir die Sizheng-Form mit Säbel, eine neue Variante von Chen Peishan. Ich selbst wollte den Tag aber nutzen, um Sightseeing zu betreiben und mal ein wenig durchzuschnaufen. Das hat nicht ganz so geklappt, wie ich mir das vorgestellt hatte,
aber das ist eine andere Geschichte und soll wann anders erzählt werden. Oder nie. Soviel soll dazu aber gesagt werden – ich hätte den Tag auch trainieren können.
ISCT-Festival am vierten Tag
Der Tag begann mit interessanten Vorträgen rund um das Thema Taijiquan. Trainingsmethoden, Kinder und Autismus.
Am Nachmittag trafen wir uns wieder in der Turnhalle. Aus aller Welt fanden Taiji-Vorführungen statt und jede hatte etwas Einzigartiges. Nachdem die Meister geehrt wurden, endete das ISCT-Festival 2024.
Mein besonderer Dank geht an Meister Chen Peishan, seinem Sohn Chen Shaohua, Meister Dietmar Stubenbaum und den Organisatoren des Festivals – allen voran Maestra Carmen Filosa, meinem Lehrer Jens Weinbrecht, der mich in die wunderbare Welt des Taiji’s erst herangeführt hat, und all jenen, die dieses Festival zu dem gemacht haben, was es für mich war: ein tiefgreifendes und schönes Erlebnis.
01.06.2024, J. Wittmer