Vorstellung über das 意 Yi

Ausgangspunkt dieses Beitrags ist die Vorstellung über das 意 Yi, welche in der folgenden Floskel eine verbreitete Übertragen ins Deutsche gefunden hat.

用意不用力 Yong Yi Bu Young Li

Benutze die « Vorstellungskraft » und nicht die äußere Muskelkraft


Das Yi einfach so in den Raum Stellen?

Die Vorstellung über das 意 Yi und der genannte Leitspruch sind in chinesischen Taijiquan Kreisen sehr verbreitet und erfreut sich auch bei uns großer Beliebtheit. Allerdings scheint doch nicht immer ganz klar zu sein wie das darin enthaltene Schlüsselwort Yi zu verstehen ist. Streut man das Yi einfach nur als « Vorstellungskraft »  in den Raum so ist es meiner Meinung nach in vielerlei Hinsicht mit Vorsicht zu genießen. Unsere Deutsche Sprache verfügt über mächtige Gestaltungsmöglichkeiten um das Yi, nach chinesischem Verständnis für das klassische Taijiquan, angemessen darzulegen. In Nachschlagewerken[1] finden wir dazu Übersetzungen wie:

Bedeutung, Sinn, Idee, Wunsch, Verlangen, Absicht, Vermuten, erwarten, auf etwas  rechnen, Anflug, Hauch, Spur

Im Kern steht die Frage ob eine korrekte « Vorstellungskraft » so überhaupt für jeden einzelnen lebendig werden kann? Ein Dilemma was den Übenden am eigentlichen Trainingsziel vorbei üben lässt. Das passiert häufiger als gedacht, da auch nicht immer die Unterrichtenden selbst diesen Umstand ausreichend durchdringen und somit die Probleme bei ihren Schülern erkennen können. Merkwürdig erscheint mir, dass sich von den zahlreichen Autoren, die sich seit Jahrzehnten in Fachmagazinen äußern, diesbezüglich noch keiner zu Wort gemeldet hat.

Für mich stellt eine reine theoretische Copy & Paste Mentalität für das praktische Erlernen und Unterrichten im Taijiquan keine Option dar. Nach längeren Beobachtungen bin ich heute so Kühn dieses Thema zu beleuchten und den allgemein gebräuchlichen Umgang mit der Begrifflichkeit « Vorstellungskraft », wenn nötig, vom Sockel zu stoßen. Völlig ohne Kommentierung denkt sich jeder lernende unter Yi etwas anderes und kreiert eigene Vorstellung dazu. Unter diesen Umständen ist das eigene Üben schlichtweg für die Katz, weil das Ziel unklar ist und somit unerreichbar bleibt.


Das Schriftzeichen Yi

Für eine Analyse kann es in 3 Radikale zerlegt werden. Diese wiederum sind selbst eigenständige Schriftzeichen.

  Yi                 besteht aus den 3 Radikalen

Fast man diese drei Radikale in einem Sinn zusammen kommt man zu der Essenz:

In Aufrichtigkeit etwas aus dem Zentrum fühlen/beabsichtigen und aussprechen/tun/nach außen bringen.

Dabei kommt mir der altmodische Ausdruck des  Gewahr werden  in den Sinn. In ihm ist der Aspekt des   – Werden –  eine Komponente die auf einen Veränderungsprozess und  – Gestaltung –  hinweist. Darüber hinaus geht es um  – Aufmerksamkeit und Präsenz – , was über die Sinne erfolgt. In diesem  Kontext sollte unser  Yi  etwas spezifischer Verstanden werden. Meine Sinnübertragung dazu lautet:

Yi

Gewahr werden in Verbindung mit einer Vorstellung über etwas wo mir eine korrekte Eigenerfahrung als Referenz vorliegt. Die Erfahrungsreferenz bezieht sich dabei auf alle Sinne und nicht nur auf das Visuelle. Es handelt sich um einen Geistigen Zustand der körperliche Prozesse beeinflusst und zu etwas hinleitet. Im Training erfordert dies eine kontinuierlich Präsenz mit allen Sinnen und ruhiges Herz im eigenen Körper.

Berücksichtige ich all diese Dinge würde die von mir vorgeschlagene Übersetzung des Leitspruch wie folgt lauten:

不用力 Yong Yi Bu Young Li

Auf das hören was « Erfahrung und Intension aus dem Zentrum der Ruhe vorgeben » und nicht einfach dem Gebrauch der groben, äußeren Muskelkraft nachgeben.

Verwende ich die ursprüngliche Übersetzung muss man den Kontext und die Begrifflichkeit von « Vorstellungskraft » für die besondere Situation erläutern. Die Vorstellung über das 意 Yi heißt ich benötige eine eigene praktische Erfahrung die Stimmig ist. Habe ich diese Erfahrung und die Bestätigung der Richtigkeit durch meinen Lehrer erhalten, dann sind die Grundlagen mich an meine « Vorstellungskraft », also an diese erinnerte Erfahrung, zu richten gelegt. Diese können nun in meinem Training einfließen. Das tue ich auch solange ich das praktisch gerade oder noch nicht perfekt umsetzen kann. Diese Art des Üben ist als eine Brücke zu verstehen die kurzzeitig benutzt wird bis sich die praktischen Fähigkeiten verbessern. Tue ich das nicht betrete ich den Pfad der Illusion. Eine Möglichkeit dies zu prüfen wäre auch die Qualität der Verbindung durch den Körper im entspannten Zustand in Betracht zu ziehen. Kann diese Qualität in der Bewegung umgesetzt werden sollte man auch der Intension unseres Leitspruches schon entsprechen können. 

In China werden vor allem die neuen Schüler mit diesen Merksatz traktiert, obwohl er eigentlich in der Anfangsphase kaum verstanden werden kann. Nach einiger Zeit des üben jedoch werden Grundlagen die sich um die 勁 Jin « Verbund Kraft » drehen erfassbar. Mit diesen Erfahrungen kann der oben formulierte Leitspruch besser verstanden werden.


Vorstellungskraft im Taijiquan Training

Kürzlich bin ich in meinem Taijiquan Unterricht mit einem interessanten Beispiel in Berührung gekommen. In einer neuen Teilnehmergruppe stellte sich die Frage wie sich den nun das richtige Taijiquan anfühlt? Eine Teilnehmerin fragte „ist es vielleicht so wie fließendes Wasser?“. Ich war sehr dankbar für diese Frage und konnte so gleich auf eine der Absonderlichkeiten eingehen die immer wieder durch Medien, YouTube ‘er und esoterischen Kreisen Verbreitung finden. Dabei kommen wir auf das Thema der Visualisierung und « Vorstellungskraft » zu sprechen.

Hier und da wird vielleicht gesagt das du dich wie das Wasser bewegen sollst, was sich seinen Weg frei bahnt usw.. Dabei handelt es sich um ein rein visualisiertes Bild was dem lernenden vorgestellt wird. Das heißt es wird auf eine bildhafte Eigenerfahrung verwiesen die fast jedem von uns vorliegt. Gleichzeitig sind sich Neuausübende meist nicht bewusst das der Ansagende damit alle anderen Sinnesempfindungen ausblendet. Die neu lernenden hingegen achten wenig darauf und haben neben der bildlichen Eigenerfahrung dazu auch andere Sinneserfahrungen gemacht die sie natürlich unterbewusst automatisch im Hintergrund ebenso mit abrufen. Damit einher ist es also nicht das gleiche wie wenn man sich mit dem eigenen Körper im Wasser bewegt. Es fühlt sich vielleicht rein Visuell betrachtet angenehm an, wenn man im Wasser schwimmt oder langsam gleitet. Allerdings sind die langsamen Bewegungen allein kein privilegiertes Merkmal für das Taijiquan.

In unserem Fall wird per Vorstellung die langsame Bewegung im Medium Wasser ausgeübt. Das Taijiquan wird natürlicherweise im Medium Luft ausgeübt. Luft und Wasser bieten mir bei ihrer Verdrängung im Raum unterschiedliche Widerstände entgegen. Der Druck den der Luftwiderstand auf mich ausübt fühlt sich nahezu Null an. Im Wasser dagegen ist der Widerstand wesentlich größer und hindert mich gleichzeitig an einer schnellen Bewegung. Dazu kann jeder spüren das ein wesentlich höherer Kraftaufwand für jede Bewegung notwendig wird. Das bedeutet wiederum das ich die großen Muskulaturen trainiere. Es verhält sich fast ein wenig wie im Fitnesscenter Light. Im großen und ganzen würde es daher mehr Sinn machen einfach Schwimmen zu gehen, da hier der Muskelaufbau viel weit gefächerter über den gesamten menschlichen Körper erfolgt. Im Taijiquan will man vor allem in der Anfangsphase genau nicht dass diese großen Muskelpartien arbeiten. Es ist kontraproduktiv. Wie hieß es doch in unseren Leitspruch?

Auf das hören was « Erfahrung und Intension aus dem Zentrum der Ruhe vorgeben » und nicht einfach dem Gebrauch der groben, äußeren Muskelkraft nachgeben.


Die Muskulatur im Taijiquan

Wenn neu lernende die Phrase mit dem fließenden Wassers hören assoziieren sie dabei automatisch auch unbewusst eine gewisse Muskelkontraktion, Muskelarbeit, weil ihre reale Eigenerfahrung aus dem Leben damit verknüpft ist. Was sie dann aus ihrer Gefühlswelt beim Üben tun ist vielleicht eine langsamere Bewegung. Der spezifische Entwicklungs- und eigentliche Trainingseffekt für das Taijiquan aber geht verloren. Darin liegt der große Unterschied zum richtig verstandenen Taijiquan Training, was an der Luft abgehalten wird. Hinzu kommt das im fortgeschrittenen Training das Taijiquan auch mit schnellen Bewegungen, wechselnden Geschwindigkeiten und explosionsartigen Kraftausstößen ausgeübt wird. Vieles davon lässt sich im Wasser so nicht realitätsnah trainieren.

Natürlich benutzen wir im Taijiquan auch die Muskulatur. Ohne diese ist der aufrechte Gang des Menschen kaum möglich. Kurz gesagt gibt es die großen, groben Muskelpartien des Körpers. In unseren zuvor genannten Leitspruch steht dafür das Schriftzeichen 力 Li am Ende des Satzes. Diese werden heute vorrangig von Menschen im Fitness Center aus Gründen des Körperkultes und Körperästhetik trainiert. Im Alltag helfen diese groben Strukturen auch körpermechanische Fehlhaltungen auszugleichen. Sie übernehmen eine Art Stützfunktion und funktionieren wie ein Rollator. Das führt zu einem permanenten hohen Energiebedarf und verstärkter Anspannung im Körper. Teil des Taijiquan Training ist es vor allem in der Anfangsphase zu lernen diese großen Muskeln entspannen zu können. Hier steht daher vor allem das Erlernen einer passiven Muskelaktivität im Vordergrund, was im westlichen Kulturkreis völlig unbekannt zu sein scheint. Parallel richten wir die Körpermechanik korrekt aus so dass die angewöhnte grobe Kompensationsarbeit der Muskulatur nicht mehr erforderlich ist. Weiterhin gibt es im Körper die tieferliegenden Muskelschichten im Bindegewebe, Faszien und an den Sehnenansätzen zu den Knochen. Diese Arten der Muskulatur entwickeln und stärken wir im korrekten Taijiquan Training. Ihre Qualitäten weisen andere Eigenschaften auf. Ihre Kräfte wirken direkter, sind zäh und ausdauernd.


Essenz

Am besten ist es daher bei einen kompetenten Lehrer in den Unterricht zu gehen und sich Rat geben zu lassen. Hier helfen dann besondere Übungen die tiefen des Inneren Raumes im Taijiquan früher betreten zu können. Wir dürfen nicht vergessen das es sich um eine praktische Bewegungskunst handelt. Sie ist in einem dreidimensionalen, realen Raum beheimatet, wo sich wirkliche Menschen mit ihren Sechs Sinnen begegnen und kommunizieren. Manche glauben dem Volksmund nach auch an so etwas wie den siebenten Sinn. Dieser kann sich hier ebenso entwickeln. Wo sonst wenn nicht hier?

06. April 2023, von J. Weinbrecht


[1] 新汉德词典 « Das neue Chinesisch-Deutsche Wörterbuch, Ausgabe 2006 » oder « Mathews‘ Chinese English Dictionary, Ausgabe 1943 »

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