Sport versus Taijiquan und die Psyche

Im Sport findet das Vergnügen durch Verletzung und Alter schnell ein jähes Ende. Als Betroffener fällt man in ein tiefes Loch, da der Verlust dieser Lebensqualität für eine leistungsorientierte Gesellschaft keinen Wert hat. Die Frage nach einem Ersatz bleibt meist unausgefüllt und unbeantwortet.

Doch wie verhält sich die Angelegenheit im Taijiquan?


Taijiquan und die Psyche

Im klassischen Taijiquan handelt es sich nicht um eine rein sportliche Disziplin, auch wenn die Bewegungen für Laien oft sportlich wirken. Es gibt andere Qualitätsmerkmale, die entscheidend sind und auf einem ganzheitlichen Verständnis von Lebenspflege beruhen. Das Taijiquan verfügt über ein weites Wertespektrum, dessen Elemente gleichwertig gewichtet sind. Dabei ergötzt man sich nicht an einer Choreografie oder einseitigen Gewinnermentalität. Das allein sorgt dafür, dass der beschriebene Kick-Off-Effekt, wie bei sportlichen Disziplinen, nicht auftreten kann.

Die philosophischen Grundlagen und die richtige Lehrmethode kristallisieren über die Jahre hinweg eine besondere Einstellung heraus, welche auch Wege im Umgang mit gesundheitlichen Einschränkungen eröffnet. Die Gründe dafür liegen in der Einzigartigkeit seiner Trainingskultur. Nachfolgend möchte ich exemplarisch das Phänomen eines Schnappfingers beleuchten, welches mir persönlich seit sieben Jahren im Taijiquan- und Lebensalltag zur Seite steht.


Der Schnappfinger (Tendovaginitis stenosans)

Wie es aus der umgangssprachlichen Bezeichnung bereits hervorgeht, macht es plötzlich „Schnapp“ und der Finger zuckt krampfartig zusammen, begleitet von einem ziehenden, dumpfen Schmerz, der die Synapsen im Hirn ordentlich klingeln lässt. Panik durchfährt einen, denn der Finger ist wie gelähmt und lässt sich auch unter Schmerzen nicht mehr bewegen. Von nun an kann es Stunden oder Tage dauern, bis der Krampf den Finger wieder freigibt oder wenigstens stufenweise bewegen lässt. Egal, ob ich nun eine Teetasse oder Zahnbürste in die Hand nehmen möchte – Fehlanzeige, man steht vor einem Dilemma. Selbst wenn der Finger nach einiger Zeit wieder in Ordnung zu sein scheint, ist man spätestens nach der zweiten Krampfattacke davon nachhaltig vereinnahmt. Von nun an fragt man sich immer wieder, ob es während des Schaltens beim Autofahren oder während des Finales eines Tischtennisspiels dazu kommt.

Somit zieht man sich aus vielen Alltagsgewohnheiten zurück und baut sich seinen eigenen Über-Ich-Stress auf.

Mittelfinger eingeschnappt


Schnipp-Schnapp-Medizin

Als Standardprozedur gibt es eine Überweisung zur Handchirurgie, die dem irritierten Patienten suggeriert, dass er keine Wahl hat. Die Ringbänder des betroffenen Fingers müssen in einer ambulanten OP durchtrennt werden, obwohl die Ursachen für das Schnappfinger-Phänomen nicht bekannt sind. Außer Thesen nichts gewesen, aber es ist schnell möglich den Schnappfinger zu beseitigen. Das wird von jeder Krankenkasse mitgetragen, da behandelte Patienten so nach kürzerer Zeit wieder arbeiten können. Dass danach mitunter ein anderer Finger einschnappt, ist für unser Gesundheitssystem ein gern gesehener blinder Fleck, da sich der Begriff Gesundheit nicht auf den Patienten, sondern auf das Florieren des Wirtschaftswachstums bezieht.

Trotz meiner angespannten Situation habe ich mich in diesem Fall entschieden, unser Gesundheitssystem nicht in Anspruch zu nehmen. Schließlich gab es vor der Zeit dieser Schnipp-Schnapp-Medizin bereits Menschen, die mit diesem Phänomen auf eine vernünftigere Weise zurechtgekommen sind. In der heutigen Zeit kann Lebenspflege auch bedeuten, auf moderne medizinische Behandlungsmethoden zu verzichten, wenn sich herausstellt, dass sie zu einer weiteren Verkettung von Abhängigkeiten und Spätfolgen führen, nur der Machbarkeit halber durchgeführt werden und ohne dass ein tieferes Verständnis von Ursache und Wirkung dahintersteht.

Die Schwellung der entzündeten Beugesehne ist das eigentliche Symptom und der Auslöser für den Schnappfinger. In der medizinischen Praxis wird oft nicht die Ursache der Entzündung behandelt. Stattdessen operiert man an den Ringbändern, um der geschwollenen Beugesehne mehr Platz zu verschaffen, sodass der Finger wieder beweglich wird.



Leere und Fülle

Der wichtigste Schritt ist, seinen Geist, der an Panik verkrampft, zu befreien. Je mehr Leere anstatt destruktiver Fülle vorhanden ist, desto mehr Handlungsspielräume können abgeklärt und entdeckt werden. Synonym bedeutet das, sich mehr Zeit zu gewähren und sich nicht schnell von Aktionismus antreiben zu lassen. Wo finden sich die geeigneten Methoden dafür? Einige werden sagen: „Na klar, jetzt kommt das Taijiquan ins Spiel!“

Dann sage ich „JEIN“. Nein, sage ich für jene, die noch kein Grundlagentraining im Taijiquan kennen. Mit einem frischen Schnappfinger ist es ungünstig, ein Grundlagentraining im Taijiquan zu beginnen und sich in kurzer Zeit therapieren zu wollen.

Ja, sage ich zu jenen, die bereits drei Monate regelmäßig, mindestens zweimal die Woche, Taijiquan üben und sich dabei mit den Routinen des Chan Si Jin 纏絲勁 – „Seidenfaden haspelnde Kräfte“ – beschäftigen. Ist man in die Theorie der Begrifflichkeiten Xin 心, Yi 意, Qi 氣, Kai 開, He 合, Yuan Dang 圓襠 korrekt eingeführt und trainiert sie in den Übungen der „Seidenfaden haspelnden Kräfte“, hat man die besten Voraussetzungen, davon auch auf andere Weise zu profitieren.


Es hängt an einem seidenen Faden

Die Übungen der „Seidenfaden haspelnden Kräfte“ werden bei uns mit geöffneten Händen und langen Fingern, ohne zu überstrecken, ausgeführt. Dazu existieren Varianten, in denen die Hände zur Faust geschlossen sind, ohne dabei muskulär anzuspannen. Wenn mein Schnappfinger vollständig zusammengeschnappt ist, Schmerz anliegt oder mein Geist von Unruhe und Panik gefüllt ist, schließe ich manchmal die Hände zur Faust, da sich in diesem annehmbareren Setting die Übungen besser ausführen lassen. Die ersten Minuten sind sehr schwierig, denn der Geist muss sich erst beruhigen, bevor auch die Schmerzen und der Druck weniger werden.

Ist diese Phase überwunden, nähert man sich der Leere immer mehr an. Steht die Zeit still, während die Übungen ausgeführt werden, ist die notwendige Leere erreicht. Dennoch bleibe ich noch einige Runden in diesem Zustand. Man bedenke: Der Geist ist tückisch. Jederzeit können sich Gedanken in den Vordergrund drängen und schon ist die Leere verschwunden; schlagartig können nun wieder Schmerz und Panik über einen herfallen. Dann beginnt das Spiel von Neuem und wird dadurch bestimmt nicht einfacher.

Nun wird mit offenen Händen geübt. Der Schnappfinger bleibt wie er ist. Sein Zustand ist völlig gleichgültig. Wenn man mit den Übungen beginnt, ist es etwas komisch, dennoch fahre ich fort. Es ist wichtig, das Yi, die Vorstellungskraft, auf das Langwerden des Mittelfingers durch Lösen zu richten.

Wer die Übung ohne Schnappfinger kennt, weiß, wie sich der betroffene Finger dabei anfühlt. Als Referenz steht auch der gleiche Finger an der anderen Hand zur Verfügung. Mit diesen Ressourcen verfügt meine Vorstellungskraft über eine korrekte Referenz als Eigenerfahrung. Diese ist unabdingbar, um das Yi richtig einzusetzen.

Sobald in der Übung Schmerzen auftreten, ist äußere Muskelkraft oder geistige Fülle im Spiel. Dann wird die Übung sowieso und prinzipiell falsch ausgeführt. Ist dies nicht der Fall, kann sich meist auch ein vollständig eingeschnappter Finger nach ca. 20 Minuten Seidenfadenwinden stufenweise von selbst wieder öffnen, da sich die geschwollenen Beugesehnen des Fingers durch die entspannten Ringbänder eine Passage für ihre Ausdehnung erschließen können. Ein elastisch dehnbares Gewebe im Körper lässt dies unweigerlich zu. Das passiert vor allem dann, wenn man nicht daran denkt. Ist der Geist, wie das Herz (Xin), ruhig und auf die eigentliche Übung konzentriert, welche nichts mit dem Schnappfinger zu tun hat, fühlt sich auch das Körperliche wohl, sicher und durch die psychische Konstitution in keiner bedrängten Verfassung. Körper und Geist beeinflussen einander. Es handelt sich um eine Begegnung mit dem Wu Wei 無謂 – der Absichtslosigkeit – in der realen Welt.


Anmerkung

Es war ein Glücksfall, als ich 2018 beim Seidenfadenwinden in meinem Training beobachtete, wie sich mein Schnappfinger um eine Stufe aus seiner Verkrampfung durch eine leichte Wölbung aufrichtete. Fünf Minuten später öffnete er sich ein weiteres Stück. Nach insgesamt 20 Minuten löste sich die Verkrampfung vollständig auf. Ich habe selten einen so glücklichen Trainingstag erlebt. Wer weiß, welche verschlungenen Überraschungen das Taijiquan-Training in Zukunft für uns noch bereithält?

Wenn das Phänomen häufiger oder in kürzeren Abständen auftritt, kann es meiner Meinung nach einen Zusammenhang zur Jahreszeit oder zu akuten Temperaturschwankungen innerhalb kurzer Zeit geben. Ist das Phänomen aktiv, findet man unterhalb der Fingerwurzel zum Handteller meistens auch eine Entzündung unter der Haut.

Das Phänomen verschwand im Zeitraum zwischen 2019 und 2024 vollständig. Seit Anfang 2025 ist es wieder da. Heute komme ich gut damit klar. Möglicherweise wäre es sogar ein Verlust, wenn es für immer weg wäre. Ich würde bestimmt häufiger einen unruhigen Geist in meinem Training tolerieren, was eine fortschreitende Entwicklung auch für andere Bereiche mindert.


11. Mai 2025, J. Weinbrecht



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