Historie von 掤 Bing und Peng im Taijiquan


Historie von 掤 Bing und Peng im Taijiquan

Bild: Jens Weinbrecht spricht über das Bing und Peng im Taijiquan

Historie von 掤 Bing und Peng – Seit über 100 Jahren wird in vielen Taijiquan Schulen der Begriff Peng zum Liebling avanciert. Er gilt als magischer Stern und kennzeichnet die Besonderheiten welche das Taijiquan erst zur Kampfkunst werden lassen. Beginnt man über historische Quellen Peng zu erforschen wird einem schnell bewusst dass hier einige Unstimmigkeiten zu erhellen sind. Dabei spielt die chinesische Sprache eine wichtige Rolle. Der Artikel beschreibt wie es von dem alt-ursprünglichen Fachterminus 掤 Bing im Verlauf zu einem heute gebräuchlichen Begriff Peng gekommen ist.

Mit Peng geht ein übergreifender Konsens bezüglich seiner Definition einher die internationale Verbreitung gefunden hat. Die Transkription in der Schreibweise Peng bezieht sich dabei auf ein Umschriftsystem was durch Wade-Giles begründet wurde. Durch die weltweite Bedeutung der englischen Sprache wurde so auch dessen Verbreitung vorangetrieben. Mitunter wurde Peng später sogar in anderen Sprachen so übernommen und benutzt.

Karikatur - Das richige Schriftzeichen für Bing und Peng

Im wesentlichem wird Peng eine ausdehnende oder anschwellende Eigenschaft zugesprochen. Im Taijiquan nutzt man die sogenannte Peng Jin – Kraft, um den Trainingspartner damit zu infiltrieren. Die Kraft tritt dabei von schräg unten, aufsteigend in mein Gegenüber ein bis es zum Verlust des Gleichgewichtes kommt.


Im Vorfeld wollen wir uns zur Historie von 掤 Bing und Peng veranschaulichen was ein interkultureller Transfer, ausgehend von China, in die westliche Welt, bedeutete. Wie überträgt man eine Ton Laut basierende Sprache, wo sich ein und dasselbe ausgesprochene Wort mit verändern des Tonfalls in seiner Bedeutung ändert? Wie geht man mit einer Bilderalphabet anmutenden Schrift um? Wie gestalte ich eine Transkription die es mir ermöglicht eine fremde Sprache systematisch erlernen zu können?


Sprachtransfer in den Westen durch Wade-Giles

Diese Fragen beantworteten Sinologen wie Thomas Wade (1818–1895) und Herbert A. Giles (1845–1935), indem sie ein Umschriftsystem entwickelten was auf der Aussprache beruhte wie sie um 1912 in der Hauptstadt Peking verbreitet gewesen war. Die Schreibweise „Peking“ entspricht dieser Transkription. Heute gibt es dafür die international standardisierte Pinyin Umschrift, wobei die Schreibweise allerdings „Beijing“ lautet. Der Vergleich zeigt vortrefflich worauf es hinausläuft. Ein Nachteil von Wade-Giles liegt darin, dass es bei den Anlauten kein B, sondern nur ein P bedient. Wenn man also ein chinesisches Klangbild Beking hört so ist man nach Wade-Giles gezwungen es als Peking niederzuschreiben. Diese Praxis hatte sich über Jahrzehnte hinweg durchgesetzt. Somit wurde eine gewisse Unschärfe in Kauf genommen die auch zu unbeabsichtigten Verfälschungen bezüglich des Inhaltes führen konnte.

Wir können daher festhalten:

Erstens: Wenn man heute in den Kampfkünsten von Peng spricht so kann keiner sagen ob nicht das Wade-Giles System seinen Ursprung verzerrt hat und es eigentlich Beng heißen müsste. 

Zweitens: Das Wade-Giles System basiert auf einem lokalen Dialekt. Der Ursprung des Begriffes, welcher den Bezug zur Kampfkunst erleuchtet, stammt aus den entfernten Provinzen in Henan, Hebei, Shanxi und Shandong. Von einem ursprünglichen Beng zu einem anderen Dialekt, wo sich die Aussprache vielleicht wie Bing anhört, ist es ein Wimpernschlag entfernt.

Ein Repräsentant für das Wade-Giles Systems ist das „Mathews‘ Chinese English Dictionary“. Es ist sehr beliebt, weil es von Missionaren zusammengestellt wurde und viele Fachbegriffe enthält die bereits um 1880 im kaiserlichen China benutzt wurden. Jedoch kann man hier nach keinen Beng oder Bing, sondern nur nach einem Peng oder Ping Eintrag suchen, um das dazugehörige Schriftzeichen ausfindig zu machen. Bedauerlicherweise ist in diesem Wörterbuch das entscheidende Schriftzeichen 掤 für Bing, was wir aus historisch verlässlicher Quelle im Bezug zur Kampfkunst vorliegen haben, nicht enthalten. Gleichzeitig ist dies ein Hinweis darauf, dass das Schriftzeichen 掤 in der Zeit von 1880 bis ca. 1945 kein bedeutender oder alltäglicher Begriff in der chinesischen Gesellschaft gewesen war. Dies setzt sich mit den international neu standardisierten Pinyin Wörterbüchern nach 1960 fort. Das Zeichen 掤 existiert hier ebenfalls nicht und wurde erst um ca. 2005 wieder eingepflegt. Dazu fällt auf, dass die Übersetzung einen etwas ungelenken Eindruck hinterlässt und die Redaktion wohl selbst mit Unsicherheiten aufwarten musste. Als Übersetzung wird „Pfeilköcher“ angegeben. In Kampfkunstkreisen unter Sinologen konnte ich kaum jemanden finden der dazu eine plausible Erklärung vorbringen konnte. Wir können also davon ausgehen, dass es sich um einen Begriff handelt der durch langanhaltenden Nichtgebrauch seine Verwendung verloren hat.


Die Wurzeln reichen von der Ming-Zeit bis zur Song-Dynastie

Nachdem ich im 康熙字典 Kang Xi Ci Dian – „Wörterbuch nach Kaiser Kang Xi (Qing – Dynastie)“ von 1716 fündig wurde, musste es noch ältere Nachschlagequellen geben. Dazu gehört eine spannende Übersetzung aus dem Sammelband 耕餘剩技 – „Vom Pflügen hinterlassene Fertigkeiten“ aus dem Jahr 1621 an der ich gerade arbeite. Im Text 長鎗法選  – „Eine Auswahl an Methoden des langen Speers“ von Shaolin Mönch 程宗猷 Cheng Zong You werden Anmerkungen zum Verständnis für das Schriftzeichen 掤 Bing festgehalten. Zu dem Ming-Zeitlichen Quellen kann man noch das 《手臂錄》 Shou Bi Lu – „Aufzeichnungen zum Gebrauch der Hände und Arme“ von 1678 hinzuzählen. Weiterhin gibt es Nachschlagewerke aus der Song-Dynastie und die Schrift 楊家槍 Yang Jia Qiang – „Speer(e) der Familie Yang“ wo der Begriff 掤 Bing in Bezug auf eine alte Speermethode beschrieben wird.

Abbildung mit Zeit Achse der chinesischen Wörterbücher.

Anhand der Timeline Abbildung ist ersichtlich dass irgendwann der Ausdruck Bing plötzlich verschwunden war. Dies muss sich im Zeitraum nach 1716 bis ca. 1900 vollzogen haben. So kam es dass Bing in der chinesischen Gesellschaft schon weit über die letzten 100 Jahre zurückgerechnet, außer vielleicht in einigen lokalen Kampfkunstkreisen, keine Bedeutung mehr hatte.

Karikatur - Was ist das richige Schriftzeichen für Bing und Peng

Historische Schriftquellen zeigen, dass es Schriftzeichen wie 掤 Bing, 捧 Peng und 棚 Peng in den Kampfkünsten gegeben hat und diese sogar bis zur Zeit der Song-Dynastie nachverfolgt werden können. Im modernen Pinyin Hochchinesisch gibt es dazu zahlreiche verschiedene gesprochene Peng. Rein exemplarisch lauten die gegenwärtigen Übersetzungen laut Pleco Dictionary, einschließlich ähnlicher Begriffe, dazu:

掤 Bing (掤, 棚 Peng)    Pfeilköcher (Peng als Ersatz verwendet, da die Wörterbücher nach Wade-Giles das Zeichen Bing nicht enthielten)

棚 Peng                        Baracke, Schuppen, Hütte, Sonnenschutz-Dach

崩,扌崩 Beng             Zerspellen, Bersten, Platzen, Reißen, Einbrechen, Einstürzen, Zusammenbrechen

菶 Beng                        ausweiten, expandieren, erweitern, eine Wasserpflanze, Spezielle (Blume)

捧 Peng                        Umklammern, Umschließen, einhaken, mit beiden Händen etwas hochhalten, Schmeicheln

膨 Peng                        Aufblasen, aufblähen, schwellen, etwas hochtreiben/Aufpumpen, Schwellung, gedunsen, schwammig, aufgebläht

掽/碰 Peng                   Stoßen, entgegenbringen, unerwartetes aufeinandertreffen

硑 Peng                        jemanden schlagen/eine reinhauen/ stampfen

Meine Recherchen habe ich mit den ältesten historischen Schriftquellen die aus dem Chenklan vorliegen begonnen. Später kamen dann andere Quellen aus der Zeit davor hinzu. In diesem Fall waren es die bereits erwähnten Texte bezüglich der Langen Speere aus der Ming-Dynastie von Shaolin Mönch Cheng Zong You und Quellen aus der Song-Dynastie über die Schrift „Speer(e) der Familie Yang“.  Cheng Zong You steht dabei in der überlieferten Tradition der Familie Yang. Im Bezug zur Kampfkunsttradition im Chenklan fällt auf das in den Aufzeichnungen aus der Familie Chen die Perspektive der waffenlosen Boxkunst im Vordergrund steht, während bei Cheng Zong You und der Familie Yang ausschließlich die Perspektive der langwaffenhandhabe in Form des langen Speers beschrieben wird. Diese Tatsache zeigt, dass es in der Evolution eine Übertragung von der Waffenkunst des langen Speers in eine waffenlose Boxkunst gegeben hat, so mahl die zugrundeliegenden Wirkprinzipien von Bing in den Erklärungen nicht voneinander abweichen.


Bing und Peng sind nicht das gleiche

Lange Zeit dachte ich das in der Historie von 掤 Bing und Peng mit beiden Begriffen das gleiche gemeint ist und die chinesischen Lehrer nur Peng verwendeten, um kein Erklärungswirrwarr auslösen zu müssen. Damit einher ist es aber nicht genug. Es gibt Berührungspunkte. Im wesentlichem gab es im Chenklan vor 1935 keinen expliziten Fachtermini Peng. Diese Terminologie wurde bereits zur gleichen Zeit, genauso wie bei dem Begriff 推手 Tuishou, von Yang Taijiquan Adepten publiziert und verbreitet. Es ist die Zeit (zw. 1900 – 1925) in der begonnen wurde fast ausschließlich von 捧, 棚 Peng, 捋 Lü, 技 Ji und 按 An als Basisprinzipien im Taijiquan zu sprechen. Über das Chen Taijiquan wurde in China erst nach 1960 publiziert. Hier griff man dann vorsorglich auf bereits etablierte Ausdrücke zurück, um insgesamt nicht noch mehr Erklärungsschleifen für die große Masse auffahren zu müssen. Das wiederum zeigt das Peng keine eigene Erfindung aus dem Yang Taijiquan ist. Es hat seine Berechtigung und Akzeptanz auch im heutigen Chen Taijiquan Unterricht gefunden. In anderen klassischen Taijiquan Schulen wird es ebenso benutzt. An dieser Stelle haben die ersten Publikationen über das Taijiquan der Yang Taijiquan Adepten eine gute Arbeit geleistet, denn Peng ist demnach eine Verbindende Komponente für die klassischen Taijiquan Schulen und trägt nicht zur Auf Splittung in andere vereinfachte Disziplinen bei.

Bei 陈子明 Chen Zi Ming, einem Taijiquan Schüler von 陈鑫 Chen Xin, wissen wir das in seinem Buch 太極拳要義 – „Grundlegende Essenzen des Taijiquan“ [1] von 1935 in den Basisprinzipien nicht Peng, Lü, Ji, An, ….  geschrieben steht, sondern 掤 Bing, 扌履Lü, 挤 Ji und 捺 Na. Angebunden folgt darin ein beschreibendes Kapitel mit Begleitfotos die er in der Überschrift nicht mit Tuishou, sondern 太極拳之攜手 Taijiquan Zhi Ga Shou – „Die Schabende Hände im Taijiquan“ betitelt. Einleitend sagt er, dass es im Chenklan Taijiquan den Begriff Tuishou nicht gibt und dieser von Yang Taijiquan Adepten verbreitet und verwendet wird. Aus der Übersetzung dieses Kapitels „Die Schabende Hände im Taijiquan“ lässt sich allerdings Schließen das Peng, was in der Bedeutung als räumliche Ausdehnung oder Anheben benutzt wird, eher als ein grundlegender Baustein zu verstehen ist der ein Bing mit seinen Auswirkungen erst möglich macht.

Das Peng von dem wir sprechen ist jedoch nicht nur eine anhebende Ausdehnung. Die Besonderheit liegt darin auf welchen Prinzipien diese erzeugt wird. Allgemein geschieht es durch körperliches Lösen, einen tiefen entspannten Zustand der eine Ausdehnung erzeugt die in die Person, welche mit einem in Kontakt steht eindringt, seine Stabilität bricht und mein Gegenüber von den Füßen hebt bzw. den Stand auf die Ferse kippen lässt. Damit ist die Person mit dem Wiedererlangen seiner Struktur und des Gleichgewichts derart beschäftigt, dass es für diesen Zeitraum nicht möglich ist mir ernsthaft gefährlich zu werden. In den Boxlinien des Chen Taijiquan im „Kleinen Rahmen – 小架 Xiaojia“ gibt es in einschlägigen Kreisen noch ein qualitatives Merkmal von dem ich gehört habe. Hier wird über die Charakteristik des ausführenden gesprochen. Man sagt er habe ein mildes Peng Jin – „eine mild ausdehnende Verbundkraft“ oder eine Tendenz ein festeres Peng Jin zu entfalten. Ausgerichtet an meinen eigenen praktischen Erfahrungen kann ich leider dazu nicht viel mehr sagen. Fest steht lediglich, dass jeder sein eigenes und ein echtes Peng in sich entwickeln muss.

Ein echtes Peng beruht auf den Vorstellungen, wie ich sie aus dem Chen Taijiquan kenne, aus mehreren Bestandteilen die gleichzeitig umgesetzt werden müssen.

  1. über die Kontaktstellen zum anderen die Informationen hören können – 聽勁 Ting Jin
  2. die Verbundkraft 勁 Jin verstehen, was auch als 懂勁 Dong Jin bezeichnet wird
  3. trotz des Kontaktes mit dem anderen in der Lage zu sein sich innerlich lösen zu können – 放鬆 Fang Song
  4. die ein strömende Kraft verändern zu können und richtig über die Absorption der eigenen Füße in den Boden zu führen oder zu leiten – 化勁 Hua Jin
  5. innerlich durchlässig und gelöst bleiben können damit die von unten zurückströmende Verbundkraft Jin durch den eigenen Körper zur Kontaktperson zurückströmen und in ihn eindringen kann

Chen Zi Ming benutzt bei seiner Beschreibung von 掤 Bing das Schriftzeichen 捧 Peng, worauf man davon ausgehen kann das beide Begriffe nicht die gleiche Bedeutung haben können. Hierzu der Originaltext plus Übersetzung.

何谓掤?如敌人以两

手捺吾之胳膊,我以右胳

膊从右肋卸下(必右脚与

右手一齐卸下),是谓之

掤。掤之下势即为 扌履 。掤

者以吾一只右肱捧他人

两手也,我先屈我之右肱

小胳膊,自下往上捧之。

Was bedeutet nun 掤 Bing ?

Bild: Das Bing in Partnerübung Tuishou, ca. 1935

Wenn der Gegner mit beiden Händen über 捺 Na [2] meine Arme bewegt, so gebrauche ich den rechten Arm ab der rechten Rippe [3] durch Abladen/Entladen (man muss den rechten Fuß gleichzeitig mit der rechten Hand im Einklang Abladen/Entladen). Das ist es was als Bing bezeichnet wird. Das unten befindliche Kraftpotential von Bing nähert sich an und wird zu 扌履 Lü. Der Verlauf von Bing benutzt nur meinen rechten Oberarm, wodurch auch die beiden Arme/Hände des anderen einen 捧 Peng – „expandierend/hebenden Auftrieb“ ausgesetzt sind. Dabei beugen sich zuerst mein rechter Ober- und Unter-Arm, bevor 捧 Peng – „der expandierend/hebenden Auftrieb“ von unten nach oben erfolgt.


[1] 太極拳要義 Taijiquan Yao Yi – Reprint ISBN: 978-7-5377-3011-2, Verlagshaus für Wissenschaft und Technik der Provinz Shanxi – Tai Yuan 2008.1

[2] Bedeutet etwas nach rechts unten bringen, heute als 按 An bezeichnet

[3] Gemeint ist wenn meine Arme nach unten rechts bewegt werden und mein rechter Ellenbogen die Stelle kurz vor meinen rechten Rippenansatz durchläuft


Neben diesem Fundus bei Chen Zi Ming gibt es in den niedergeschriebenen Kampfkunstregistern von Chen Xin und in „den handschriftlichen Kopien (seines Onkels) 陳季甡 Chen Ji Shen“ [4] die alten Boxformen[5]. Hier tauchen Gestenbezeichnungen auf welche das Zeichen 掤 Bing enthalten. In der Liste unter 短打 Duan Da – „Die kurz schlagenden Hände“ taucht

an 51. Stelle 掏擄打 Tao Lu Bing Da – „herausziehend – grabendes Schlagen“ auf.

In der Bezeichnung Bing Da, was hier nur als Schlagen übersetzt wurde steckt noch ein qualitativer Aspekt verborgen. Dabei handelt es sich meiner Meinung nach im Kern um den heute benutzten Begriff  發勁 Fa Jin – „Verbundkraft ausstoßen“, was häufig mit einem blitzartig entladenden Schlag assozeiert wird.

Im Anschluss folgt im Manuskript eine Abschrift des 拳經總歌 Quan Jing Zong Ge – „Hauptlied der klassischen Kampfkunst“ wo

an 5. Stelle 鉤逼攪人人曉 Gou Bing Bi Jiao Ren Ren Xiao – „Mit dem Haken schlagen erzwingen, was jeder kennt“

geschrieben steht. Diese Schriftabschnitte stammen aus dem Jahre 1843 und sind der älteste Schriftnachweis über den Ausdruck 掤 Bing im Chenklan. Die gelistete Schrift des 拳經總歌 „ – „Hauptlied der klassischen Kampfkunst“ verweist dem Ursprung nach auf das Mingmilitär zurück, wo es durch General 戚繼光 Qi Jiguang (fast 200 Jahre früher) schon seine Verbreitung als 拳經 Quan Jing – „Boxkunst Kanon“ gefunden hatte. Diese, auch als „Kampfkunstkanon“ bezeichnete Schrift hatte nach dem Zusammenbruch der Ming-Dynastie noch lange Verbreitung durch heimkehrende Soldaten zu ihren Familien gefunden. Dort wurde sie häufig, wie auch bei den Chen Familien, in ihre Kampfkunstregister aufgenommen und weiter überliefert. Ob allerdings ein General Qi Ji Guang seinerzeit die gleiche Definition zu Bing wie ein Chen Zi Ming um 1935 abgegeben hätte bleibt ungewiss. Der Grund liegt in den großen Zeitabständen verborgen. General Qi betrachtete Bing aus einer rein militärischen Perspektive, aus der Zeit um ca. 1575. Die Transformation von Bing aus der Waffenkunst zur waffenlosen Boxkunst im Chenklan vollzog sich im Zeitraum von ca. 1620 bis 1855. 陳季甡 Chen Ji Shen dürfte dabei eine wichtige Schlüsselfunktion eingenommen haben, denn später wird berichtet, dass sein Zwillingsbruder 陳季甡 Chen Zhong Shen zurzeit bei der Bekämpfung der Nian Rebellion um 1854/1855 einen ihrer Anführer mit dem langen Speer geschickt zur Strecke brachte[6]. Zu jener Zeit war also die Waffenhandhabe des langen Speer im Chenklan[7] in Takt. Vielleich wäre seine Definition von Bing noch stark von der Waffenhandhabe und den Überlieferten Quellen geprägt gewesen, doch spätestens danach wurde über die Generation von seinem Sohn Chen Xin bis hin zu Chen Zi Ming eine klare Vorstellung darüber entwickelt wie das Bing aus Perspektive von einer rein waffenlosen Boxkunst aus zu betrachten ist. Über eine Zeitspanne von mehr als 200 Jahren hat sich also im Chenklan viel verändert und es spricht dafür, dass sich die Kampfkünste weiterentwickelt haben. Die heute noch gern geteilte tagträumerische Vorstellung von einer rein konservierten Kampfkunst aus alten Zeiten, die vielleicht noch auf Chen Wang Ting begründet ist, kann somit nicht wirklich als gesichert betrachtet werden.

Da 掤 Bing später nicht mehr in den Wörterbüchern enthalten war konnte man in China immer noch auf einen alten Kunstkniff zurückgreifen. Bei diesem entleiht man sich für ein Wort ein anderes Schriftzeichen mit hohem Ähnlichkeitswert. Das hat zur Folge das der Leser des Textes einen gleichen Kenntnisstand benötigte, um aus dem Zusammenhang den Inhalt verstehen oder richtig deuten zu können. Alle anderen Leser dagegen sind verwirrt, da das ausgeliehene Schriftzeichen ja nun eine ganz andere Bedeutung aufweist. So ist es im Laufe der Zeit zur Verbreitung des Begriffes Peng in China gekommen, wobei ihm durch manche Vertreter das Zeichen 掤 zugewiesen wurde. Einige nutzen dagegen heute Schriftzeichen wie 棚 oder 捧 für Peng.

Schätzungsweise sind 70% aller deutschsprachigen Taijiquan Bücher aus dem Englischen Übersetzt worden und häufig beruhen sie auf Yang Taijiquan Literatur.  Dadurch wird nachvollziehbar warum der Begriff Peng in Taijiquan Kreisen soviel Akzeptanz gefunden hat. Als ein Vorteil stellte sich dabei der Austausch mit englischsprachigen Taijiquan Praktikern heraus, weil beide Seiten ein gleiches Grundverständnis für Peng mitbringen. Wie es zu dem klangbildlich gesprochenen Wort Peng oder Beng, was von frühen Yang Taijiquan Adepten verbreitet wurde, gekommen ist bleibt offen. Vermutlich spielte das verbreitete Analphabetentum in jener Zeit unter der Bevölkerung zw. 1890 und 1935 eine entscheidende Rolle. Wer nicht schreiben kann hat nicht die Möglichkeit sein gesprochenes Wort, klanglich mit dem geschriebenen Zeichen zu Reflektieren und bewusst zu zuordnen. Insofern wurden Peng oder Beng vermutlich aus einem schlichten umgangssprachlichen Gebrauch benutzt und irgendwann als Fachausdruck einfach fixiert.


Zusammenfassung

Bei 掤 Bing handelt sich um einen sehr alten Begriff der nachweislich im Chenklan vor 1935 benutzt wurde. Chen Zi Ming verwendet im Text das Zeichen 捧 Peng als Hilfsmittel, um das 掤 Bing den Taijiquan Schüler und Adepten (Anfängern) möglichst verständlich nahe zu bringen. Es ist der Versuch eine fühlbare praktische Fertigkeit an jemanden zu vermitteln der mit seinen eigenen körperlichen Ressourcen dazu noch nicht in der Lage ist. Zusammenfassend handelt es sich bei Bing, dem Verständnis nach, um eine Kraft die von unten kommt und nach oben gerichtet ist. Die Kraft wird durch eine Ausdehnung an die Kontaktperson herangeführt und entfaltet (Peng), was auf Grundlage eines körperlich tiefenentspannten Zustandes geschieht. Das alles zusammen ist nach Chen Zi Ming unter 掤 Bing zu verstehen.

Zu dem bereits gesagten gibt es folgende allgemein verbreitete Definitionen die sich Überlagern:

  • Bing                 eine Kraftrichtung die von unten kommt und nach oben gerichtet ist
  • Peng                eine ausdehnende Kraft tritt von schräg unten, aufsteigend in mein Gegenüber ein – die Kraftwirkung erfolgt durch eine Ausdehnung die den anderen auf Distanz wahrt und mitunter auch als Abwehrfunktion übersetzt wurde

Googelt man heute nach Peng so fällt auf das im Englischen häufig dem Begriff Peng das Schriftzeichen 掤 zugewiesen wurde. Das ist inkorrekt, weil es sich um das Schriftzeichen von Bing handelt. Diese Praxis ist heute vielfach im klassischen Yang- als auch im Chen Taijiquan anzutreffen.

Aus Sicht der reinen Waffenhandhabe, die sich bis zur Familie Yang aus der Song-Dynastie zurückverfolgen lässt, wird bezüglich Bing gesagt das es sich um eine von unten nach oben aufsteigender Kraft handelt. Wie der Kontakt der beiden Waffenträger zueinander aufgebaut wird und mit welchen Qualitäten sie versehen sein muss wird partiell angedeutet. Erwähnt wird dabei die schwingende Eigenschaft der Speerstange die im Zusammenspiel mit dem Gewicht des Speerkopfes richtig verstanden sein will. Damit einher lässt sich auch der heute verwendete Begriff des 發勁 Fa Jin als einen explosionsartiger Kraftausstoß wiedererkennen, was für den Speer aus der Familie Yang genauso praktiziert wurde. Das Schwingen des Speers kann als Äquivalent zum mehrfach blitzartigen hintereinander geführten Fa Jin verstanden werden. Eine Fertigkeit die zum Beispiel im 忽雷家 Huleijia Taijiquan besonders in den Vordergrund rückt. Offensichtlich hatte der Begründer 李景延 Li Jing Yan es verstanden seine Erfahrungen aus der 王堡搶 Wangbao Speer Tradition oder einer Unterweisung im langen Speer durch Chen Zhong Shen hier vollständig in seine Waffenlose Kunst zu adaptieren. Zwar verfügte er schon über die durch seinen Lehrer 陳清平 Chen Qing Ping vermittelten Fertigkeiten, doch Raffinesse, Tiefgang und Reife gewann sein Taijiquan erst durch die gemeinsamen Erfahrungen die er mit dem langen Speer gemacht hatte.


[4] 陳季甡抄本 Chen Ji Shen Chao Ben

[5] Quelle: 和式太極拳譜 / 和式太极拳谱 – He Shi Tai Ji Quan Pu, von 和有祿 / 和有 l 禄 – He You Lu, ISBN 7-5009-2418-6, Reprint von 2002

[6] Quelle: Anlagetext 陳氏家乘 Chen Shi Jia Sheng – „Ahnentafel der Familie Chen“ unter 陳季甡 Chen Ji Shen (um ca. 1854/1855), im Buch 陳氏太極拳圖説 Chen Shi Taijiquan Tushuo – „Grafische Erläuterungen zum Taijiquan des Chenklan“, von 陳鑫 Chen Xin, ISBN 7-5377-2001-0, Reprint 2003

[7] heute als  十三大槍 Shi San Da Qiang – “Großer 13er Speer” oder 陳氏太極十三大槍(桿) – „Der Große 13er Taiji Speer im Chenklan“ bezeichnet


Anmerkung des Autors:

Wir können zur Historie von 掤 Bing und Peng sagen, dass der Begriff Peng eine neuere Erscheinung ist. Das Wort Peng als auch das ihm im nachhinein zugewiesene Schriftzeichen 掤 sind über historische Schriftquellen nicht nachweisbar. Ihm wurden im Verlaufe der Zeit die Eigenschaften des ursprünglichen Begriffs 掤 Bing zugeschrieben und aus der Perspektive der waffenlosen Kampfkunsterfahrung weitere qualitative Merkmale zugesprochen. Dies erschwert zwar die Arbeit für die Forschenden, hat aber dazu geführt, dass heute in den klassischen Taijiquan Schulen eine weitestgehend übereinstimmende Vorstellung darüber existiert was das wichtigste Grundprinzip im klassischen Taijiquan ausmacht.

J. Weinbrecht, vom 28.11.2020










Summary
Historie von 掤 Bing und Peng im Taijiquan
Article Name
Historie von 掤 Bing und Peng im Taijiquan
Description
Historie von 掤 Bing und Peng im Taijiquan zeigen das deren Ursprung in die Waffenkünste des langen Speers zur Ming Dynastie zurückreicht.
Author
Publisher Name
Institut für Bewegungskunst
Scroll to Top