Die Geschichte Liu Feng Si Bi und Entstehung im Chen Taijiquan habe ich bereits in dem Artikel « Spuren der Evolution – 1000 Jahre Lan Zha Yi 懶扎衣 » angesprochen. Heute möchte ich diese Darstellung aktualisieren. Die Entstehung der Geste kann mindestens bis in die Zeit von Ming General Qi Ji Guang (1528-1588) zurückdatiert werden. Die nachfolgenden Informationen lassen dies einfacher nachvollziehen.

Frühste Begegnungen
Im He-Manuskript [1] findet man Liu Feng Si Bi in dem handschriftlichen Kampfkunstregister von Chen Ji Shen 陳季甡 aus dem Jahre 1843. Es ist die früheste bekannte schriftliche Erwähnung aus dem Chen-Klan im Kreis Wen. Die Geste steht einmal im « Lied vom Faustkampf Kanon » Quan Jing Zong Ge 拳經總歌 an 59. Stelle von 93 gelisteten Verszeilen.
Das zweite Mal findet man sie in der « 4. Hammerfaust – Form » Si Tao Chui 四套錘. Hier steht Liu Feng Si Bi an 13. Stelle von 25 gelisteten Gesten. Darin heißt es: Liu Feng Si Bi Shi Nan Rong 六封四閉勢難容. Die letzten beiden Zeichen Nan Rong 難容 deuten darauf hin, dass die Geste « schwierig zu halten/voluminös » ausgeführt wird.
Als diese Niederschriften angefertigt wurden, gab es in den Chen Familien noch keine …. Yi Lu- und … Er Lu-Form. Stattdessen wurden noch die alten Formen (im Buch 唐豪 Tang Hao – Der Faustkampf-Kanon von General Qi Ji Guang inkl. Kommentierung) trainiert, die der bekannten These nach Tang Hao 唐豪 zufolge von Chen Wang Ting aus dem « Faustkampf Kanon » Quan Jing 拳經 von Qi Ji Guang entnommen worden sind.

Daher hat die Geste Liu Feng Si Bi zur Zeit von General Qi Ji Guang bereits existiert. Was wir nicht wissen, ist wie die Geste praktisch ausgesehen hat und für was sie im konkreten Fall eingesetzt wurde. In den Quellen bei Song-Kaiser Tai Zu, von dem Qi Ji Guang einst große Teile seiner Kampfkunststandards übernommen hatte, existiert die Geste nicht. Daher scheint der Ursprung dieser Geste bei Qi Ji Guang selbst, den Kampfkunstfamilien seiner Zeit oder im Zeitraum nach Song-Kaiser Tai Zu bis zu Qi Ji Guang zu liegen. Sie ist also erstmals zwischen 976 und 1588 in Erscheinung getreten, ohne das man irgendetwas genaueres zu seinem Ursprung sagen kann.
Einflüsse aus der Waffenhandhabe

Die Geschichte Liu Feng Si Bi hat höchstwahrscheinlich auch Impulse durch Adaptionen des Langen Speers erfahren. Der lange Speer wurde bis zur Generation von Chen Ji Shen konsequent und praxistauglich in einigen Chen Familien weitertradiert. In meiner Übersetzung aus dem Buch « Eine Auswahl an Methoden des langen Speers » 長鎗法選 steht auf Seite 52 im Kapitel „Die fünfte Koordinierung“: … „Zuerst gab es « viermal versiegeln/umhüllen und viermal verschließen » Si Feng Si Bi 四封四閉“ …. Auf Seite 70 wird außerdem « Großes Siegeln » Da Feng 大封 als die erste von sieben Basis-Speermethoden genannt.
Es ist naheliegend, dass es aufgrund dieser Ähnlichkeiten hier eine Verbindung bei der Transformation der Waffenhandhabung des langen Speers zur waffenlosen Kampfkunst im Chen-Klan gegeben hat. Dieser Aspekt bleibt aus heutiger Sicht häufig im Verborgenen, weil der lange Speer – vermutlich auch wegen der offiziell besiegelten Bedeutungslosigkeit im chinesischen Militär ab 1906 – bei den Chen-Familien dann ebenfalls keine wichtige Rolle mehr gespielt hat.
Spiele der Entwicklung

Dazu kommt, dass einige Boxlinien der Chen-Familien bis heute statt Liu Feng Si Bi andere Bezeichnungen für die gleiche Geste verwenden. Zum Beispiel verwendet Meisterin Chen Li Qing die Bezeichnung « Schließende Geste » He Shi 合勢 in ihrer Hauptform [2] sechs Mal. Andere bevorzugen wiederum die Bezeichnung « öffnen, schließen Geste » Kai He Shi 開合勢. Warum genau diese unterschiedliche Namensgebung existiert bleibt fraglich.
Die heutige Unterscheidung in « Kleinen Rahmen » 小架 oder « Großer Rahmen » 大架 liefert uns dafür keine Antwort. Unter den zahlreicheren Boxlinien im « Kleinen Rahmen » trifft man beide Gestennamen an. Ein Grund könnte sein, dass « Schließende Geste » He Shi als Name für die Schüler, welche Chen Taijiquan lernen, einfachere Möglichkeiten der Erklärung bietet.
Geeignete Kandidaten für die Beantwortung dieser Frage kann man in der ISCT (International Society of Chen Taijiquan) ausfindig machen. Meister Chen Peishan und Meisterin Chen Peiju haben in jungen Jahren auch bei Ihrer Tante Chen Li Qing gelernt. Sie können heute sicherlich darüber Auskunft erteilen. Besonders Interessant ist auch die Meinung meines Lehrers Dietmar Stubenbaum dazu. Er hatte früher die Gelegenheit auch die Taijiquan-Szene der älteren Generationen aus Taiwan kennenzulernen. Er ist nicht ganz zufällig seit längerer Zeit der Präsident in der ISCT. Ich hoffe, dass uns noch ein dritter Teil zu Liu Feng Si Bi von Dietmar Stubenbaum am Jahresende bereichern wird.
[1] Buch: Lu 祿, He You 和有, « He Stil Taijiquan Kampfkunstregister » 和式太极拳谱, Ausgabe 2003-06, ISBN 7-5009-2418-6, « Chen Ji Shen’s handschriftliche Kopien » 陈季甡抄本
[2] Englisches Buch – Traditional Chen Style Taijiquan – The Small Frame Method – 2007, Verlag AuthorHouse, ISBN 978-1-4259-8585-1, Fan-Chun Lei, A. Frank Shiery
22. Juni 2025, J. Weinbrecht