Der Ahnentempel des Chen Klans


Der Ahnentempel des Chen Klans

– Eine Analyse aus soziologischer Sicht

– Ein Studienbericht der Sportuniversität Beijing – JOURNAL OF BEIJING SPORT UNIVERSITY von 2007, Band 30 (Ausgabe 1) – Abteilung zur Erforschung der Wushu-Kultur, Henan-Universität, Provinz Henan, Kaifeng, 475001, Klassifizierung: G80-05, Artikel-Nr.: 1007—3612(2007)01—0013-03 / Ein Auszug aus der vollständigen Übersetzung (025-01-36-T.pdf), mit beigefügten Bildern aus Fremdquellen, vom Institut für Bewegungskunst in Nürnberg. –


Der Bericht beschäftigt sich mit der überlieferten Sportkultur, dem Chen Taijiquan aus den Chenklan Familien. Eine besondere Rolle spielt dabei der Ahnentempel des Chenklans in Chenjiagou, die Genealogie und die inhärenten Beziehungen zw. der Entwicklung von Taijiquan und dem Aufbau zeitgenössischer, chinesischer Dörfer aus soziologischer Sicht.

Der Ahnentempel als Symbol für das kollektive Gedächtnis des Chenklans in Chenjiagou

Der Ahnentempel des Chenklans wurde in der Mitte der Ming-Dynastie erbaut.  Erst ab der Qianlong-Zeit zw. 1736 und 1795 in der Qing-Dynastie wurde er erneut aufgebaut. Der Ahnentempel war noch vor der Befreiung von der japanischen Okkupation und dem Bürgerkrieg bis 1949 gut erhalten. Doch während der Kulturrevolution (1966-1976) wurde der Ahnentempel als ein Machtsymbol angesehen, was die alte Ära überlebte hat. Daher war es ein Glücklicher Umstand, dass der Tempel nicht zerstört wurde. Das Schicksal sah aber vor, dass der Ahnentempel der Familie Chen beschlagnahmt wurde. Damit einher wurden alle Aktivitäten der Klanleute und das praktizieren von Taijiquan untersagt. Nachfolgend wurden die Klaneliten zum Ziel öffentlicher Verfolgung. Dies führte zu körperlichen Misshandlungen und öffentlichen Beschimpfungen. Der Druck war so hoch, dass manch einer bereit war in einen Brunnen zu springen, um Selbstmord zu begehen. Letztendlich ließ man den Ahnentempel des Chenklans im Jahre 1967 abreißen.

Wiederaufbau des Ahnentempels und Bestätigung des kollektiven Gedächtnisses durch gezielte Klaneliten

Im Frühjahr 1995 sollte der Chenklan Ahnentempel schließlich zum dritten Mal von Grund auf erneuert werden. Zuvor wurde bereits der Familienrat des Klans einige Male einberufen, um die Meinungen der Klanmitglieder einzuholen. Dabei wurde ein Fond eingerichtet, indem Geld gespendet wurde. Wiederholt folgten viele Versammlungen die jedoch ergebnislos ins Leere liefen. Bewegung brachte dann der Vorschlag die gegenwärtigen Kampfkunstmeister Geld spenden zu lassen. Plötzlich spendete der in der 11. Kampfkunstgeneration stehende 陈立法 Chen Li Fa 3000 Yuan.


Dadurch folgten ihm andere Kampfkunstmeister mit weiteren Spenden. Letztendlich ließen sich damit die eigenen Vorfahren glorifizieren, indem man mit Inschrifttafeln die wichtigsten Protagonisten aus der Historie der Taijiquan Meister herausstellte. Für die Nominierung im neuen Ahnentempel gab es Ideen des „Dorfkomitees“, „einer übergeordneten Führungskraft“ und den „Familienklans mit ihren ursprünglichen Absichten“. Es zeigte sich jedoch, dass sie alle zu große Interessensunterschiede einbrachten. In Bezug auf die Benennung konnte man sich Grundlegend auf „名人祠堂 Ming Ren Ci Tang“ – „Ahnenhalle der besonderen Persönlichkeiten“ einigen. Der Grund liegt darin, dass sich Dorfbewohner die nicht den Familiennamen Chen tragen ihre Vorfahren hier ebenfalls vertreten sehen wollen und somit Zugang zur Ahnenhalle einfordern. Dies ist ein Erfolg, um ihr Sozialkapital auszubauen. Darüber hinaus kehrt die Auferstehung der Klanmachtstellung mit dem Namen Chen, wie um 1949, zurück, was später bei den Regierungsbeamten „als unausgesprochene Führung“ zum Standard wird. Um jedoch den Ahnentempel so schnell wie möglich zu errichten, gingen die Chenklan Familien auch einen vorübergehenden Kompromiss ein, als sie die Restaurierung des Ahnentempels beantragten. Demzufolge konnten wir einige Jahre später zwei fertiggestellte Ahnentempel Erblicken. Einmal den Tempel „Ahnenhalle der besonderen Persönlichkeiten“ und den „陈氏家庙 Chen Shi Jia Miao“ – „Chenklan Ahnentempel“ die mit zwei Gedenktafeln in unterschiedlichem Kontext danach in Erscheinung traten. Dabei wurden auch die Kriterien für die Öffentlichkeitsarbeit der Regierung berücksichtigt und man bezeichnete ihn bei abwechselnden Gelegenheiten auch als „Historische Gedenkhalle für die Großmeister des Taijiquan“. Im Grunde steht diese elegante Art der Übermittlung für eine Durchmischung der Interessen beider Seiten, einmal bezüglich der „Taijiquan Kultur“ und zweitens im Tauziehen um die Redefreiheit beim Ausüben von Amtsbefugnissen. Auf dieser Plattform der gegenseitigen Abhängigkeit haben beide Seiten eine Vereinbarung getroffen die Konflikte und Ressentiments vermeidet. Es ist eine Art stillschweigende Übereinkunft. Durch den Wiederaufbau des Ahnentempels scheinen alle eine Art symbolische Lösung für kulturelle Auseinandersetzungen gefunden zu haben. Der Tempel stellt eine Kommunikationsplattform dar. Aus diesem Grund brachte der Verlauf der Rekonstruktion des Ahnentempels auch ein kollektives Gedächtnis zustande, was durch die selektiven Klaneliten bestätigt wurde. Die Art der Bestätigung besteht darin, Erinnerungen an die Handlungen der Klaneliten durch Texte, Statuen und Gravuren in Steintafeln im Ahnentempel zu zeigen. Demnach werden jene ausgewählt die mutig und ohne Makel aus dem Klan stammen, das Taijiquan erlernten und zu einen Expertenniveau entwickelten. Dies sind zum Beispiel die Zwillingsbrüder 陈恂如 Chen Xun Ru und 陈申如 Chen Shen Ru, der Unsterbliche 陈公兆 Chen Gong Zhao  der einen verrücktem Ochsen von den Füßen heben konnte, 陈长兴 Chen Chang Xing der die Box Kunst an den außenstehenden 杨露蝉 Yang Lu Chan überlieferte, der Stratege 陈仲甡 Chen Zhong Shen und sein Zwillingsbruder 陈季甡 Chen Ji Shen, den Taijiquan-Theoretiker 陈鑫 Chen Xin [1], 陈照丕 Chen Zhao Pi, 陈照奎 Chen Zhao Kui, 陈照旭 Chen Zhao Xu und weitere………… Ihre Nachkommen richteten die Steintafeln mit Inschriften bei der Rekonstruktion des Ahnentempels wieder her. Damit wurde die Geschichte der Vorfahren im kollektiven Gedächtnis erneut wieder an ihren Platz gerückt. Es ist Offensichtlich, dass jede dieser Steinsedimente und alle ausgewählten Erinnerungen mit dem Taijiquan in Beziehung stehen.


Die Texte über das kollektive Gedächtnis des Klans sind eine Folge aus den angestellten Felduntersuchungen

Dem Autor viel auf, dass dem Chenklan von Chenjiagou nicht nur gewöhnliche Grundelemente fehlen, wie der sozialanthropologische Forscher 晋遍 Jin Bian beobachtete. Dazu gehören zum Beispiel symbolische Klanrituale, vollständige Klanorganisationsstile und verbindliche Klanregeln. Wenn man nur den Stil der Genealogieaufzeichnungen des Klans betrachtet, so gibt es einen klaren Mangel an traditionell überlieferten Normen. Um die historische Bedeutung von Genealogieaufzeichnungen, insbesondere die interne Beziehung zwischen Genealogie und Taijiquan Kultur, weiter zu erfassen, muss der Autor über zwei Personen sprechen: die erste ist 陈鑫 Chen Xin und die zweite ist 陈伯先 Chen Bo Xian.

Im Chenklan selbst wurde das erste genealogische 家谱 Jia Pu – „Familienregister“ von,  dem aus der 10. Klangeneration stammenden, 陈庚 Chen Geng zusammengestellt, womit ein erster Beitrag für das  kollektiven Gedächtnistext entstand. Ein großer Beitrag wurde diesbezüglich von Chen Xin, aus der 16. Klangeneration geleistet. Er verfasste in 5 Schriftrollen《陈氏家乘》Chen Shi Jia Cheng – „Die Chroniken der Chenklan Familien“, das mehrere Schriftrollen umfassende Werk《安愚轩诗文集》An Yu Xuan Shi Wen Ji – „Friedvoll-Närrische und poetische Gedichtesammlung“,《陈氏太极拳图说》Chen Shi Taijiquan Tu Shuo – „Grafische Erläuterungen zum Taijiquan des Chenklans“ in vier Bänden“, eine Schriftrolle des 《太极拳引蒙入路》Taijiquan Yin Meng Ru Lu – „Vernebelte Wege in das Taijiquan“ und dem《三三六拳谱》San San Liu Quan Pu – „Das Drei Drei Sechs Kampfkunstregister“. Zu jener Zeit gab es noch die verdienstvolle Person Chen Bo Xian aus der 18. Klangeneration. Er verfasste nacheinander die Schriften《太极拳由来》Taijiquan You Lai – „Die Anfänge des Taijiquan“,《陈氏家族世系表》– „die Familienstammbäume des Chenklans“,《太极拳名人传递表》Taijiquan Ming Ren Chuan Di Biao – „Namenhafte Überlieferungslinien des Taijiquan“ und《已忆三三六拳谱》Yi Yi San San Liu Quan Pu – „Erinnerungen an das Drei Drei Sechs Kampfkunstregister“. Er war bestrebt Lehrbücher für die Gründung einer Taijiquan Schule in Chenjiagou zusammenzustellen, wie z. Bsp.《陈氏太极拳内部资料》Chen Shi Taijiquan Nei Bu Zi Liao – „Interne Dokumente zum Chenklan Taijiquan“,《陈氏太极拳练习概要》Chen Shi Taijiquan Lian Xi Gai Yao – „Grundrisse für das Training des Chenklan Taijiquan“,《沿传史话》Yan Chuan Shi Hua – „Aus langer Zeit überlieferte Legenden“ und weiteres. Die oben genannten Texte können auch als Ergänzung zur Klangenealogie angesehen werden. Ihre schriftlichen Bemühungen haben dazu geführt, dass der Inhalt des Klangedächtnisses durch historische Veränderungen bereichert wird.


Damals waren viele Gelehrte der Meinung, dass die Genealogie ein mächtiges Instrument sein kann, um die Menschen in der chinesischen Gesellschaft zu vereinen. Das Aufschreiben der Familiengeschichte kann vielleicht auch als eine Art Erklärung dafür angesehen werden. Es ist „ein Konzept der mentalen Einstellung“. Obwohl es in dem kollektiven Gedächtnis des Chenklans einen Mangel an Texten gibt fallen doch die existierenden 族谱 Zu Pu – „Klan Abstammungsregister“ recht schlicht aus. Sie genügen jedoch um eine Schlussfolgerung zu stützen. Aufgrund der angefertigten Registerbearbeitungen sind die aufgestellten Inschriften nützlich, um ihnen eine gemeinsame Identität zu ermöglichen. Dabei gibt es in Chenjiagou diese Art von allgemeiner Identifikation, abgesehen von den traditionell-klassischen Blutsverwandtschaften und geografischen Beziehungen nach außerhalb. Sie haben das Taijiquan bereits seit hunderten von Jahren überliefert bekommen, womit sich offenbar im Klan bereits eine Art Allianz etablieren konnte. So bildete sich im Verlauf der Geschichte ein emotionales Instrument heraus. Wenn man sich das aus der Perspektive des kollektiven Gedächtnisses anschaut so gibt es eine Beziehung zwischen den Chenklan Familienregistern und dem Taijiquan. Das kann man vollständig an den nächstfolgenden beiden Ereignissen herauslesen. Das erste war die Bestätigung der ausgewählten Klaneliten, durch das kollektive Gedächtnis beim andauernden Niederschreiben der Stammbaumregister. Das zweite sind die Maßnahmen der Klaneliten die zum Erhalt der Stammbaumregister beitragen.

Bestätigung ausgewählter Klaneliten durch das kollektive Gedächtnis im Zuge der Erneuerung beim Niederschreiben der Stammbaumregister

Die Arbeit des Chenklans besteht nun darin die Überarbeitung der Stammbaumregister fortzusetzen. Die für den Familienklan zusammengefassten Ansichten finden wir im 《陈氏宗谱》Chen Shi Zong Pu – „Chenklan Stammbaumregister“ wieder. Es enthält die im Chenklan geheim gehaltenen Schriften. Das Register enthält für den Familienklan auch einige Unannehmlichkeiten die sehr intim sind, wenn sie an die Öffentlichkeit geraten. Normalerweise sind der Öffentlichkeit das von Chen Xin verfasste 《陈氏家乘》– „Die Chroniken der Chenklan Familien“ und von 陈森 Chen Sen [2] geschriebene 《陈氏家谱》– „Chenklan Familienregister“ bekannt. Diese beiden Schriften sind von Einzelpersonen verfasste Chenklan Familienregister die etwas über die Klanlandsleute aus den vergangenen Generationen und über das Training der Taijiquan Experten sagen. In dem von Chen Sen zusammengestellten „Chenklan Familienregister“ finden sich „vergangene, berühmte Kampfkunstmeister. Hier wurde begonnen sie unter Bezeichnungen wie 拳手 Quan Shou – „Boxer“, 拳师 Quan Shi – „Boxkunst Meister“ oder 师 Shi – „Meister/Lehrer“ hervorzuheben und die besten in der Kampfkunst schriftlich zu Benennen.“ Die „Chroniken der Chenklan Familien“ von Chen Xin ist eine lebendige, schriftliche Aufzeichnung, welche die Leistungen ab der 10. Klangenerationen würdigt. Sie reicht von 陈王廷 Chen Wang Ting an und gibt die Geschichte der talentierten Meister im Taijiquan und ihre Charaktere auf einfache oder komplexe Weise wieder. Im Winter 1930, wurde der Feldforscher 唐豪 Tang Hao von Herrn 陈子明 Chen Ziming nach Chenjiagou eingeladen, um historisches Material über das Taijiquan zu sammeln. Dabei konnte er diese beiden Schriften als lose Manuskripte einsehen und glücklicherweise Abschriften mit nach Shanghai bringen. Es gibt aber auch Zweifel was Tang Hao damals aus den Chenklan Familien wirklich mitgenommen hat. Basierend auf dem 《陈氏家谱》– „Chenklan Familienregister“ aus der Sammlung von 陈淼 Chen Miao‘s Familie [3] zeichnete Tang Hao die 陈家沟陈氏拳家世系简表 Chenjiagou Chen Shi Quan Jia Shi Xi Jian Biao – „Vereinfachte Tabelle über die Chenklan Boxkunst Familien aus Chenjiagou“. In der Tabelle wurden die Aufzeichnungen von der 1. Generation 陈卜 Chen Bu bis zur 17. Generation zu 陈发科 Chen Fa Ke abgebildet. Darunter befanden sich die tatsächlich überlieferten Verhältnisse unter den Kampfkunstmeistern, wobei jedoch nicht nachgewiesen werden konnte woher diese stammen. In Korrelation zu den Aufzeichnungen in „Die Chroniken der Chenklan Familien“ von Chen Xin gehen die Inhalte auch auseinander. Nur die von der 18. Klangeneration durch Chen Bo Xian verfassten Schrift 《太极拳名人传递表》– „Berühmte Taijiquan Praktiker und die Tabelle der Überlieferungen“ gibt zum ersten Mal eine Übersicht darüber wie die tatsächliche Übertragungsbeziehung unter den Kampfkünstlern aus Chenjiagou ausgesehen haben. Diese Schrift zur Überlieferung des Taijiquan im Klan wurde letztendlich von Klan interner als auch externer Seite allgemein anerkannt. So wurden bereits Inschrifttafeln angefertigt und in der Taijiquanhalle von Chenjiagou aufgestellt. Erwähnenswert ist dabei, dass unter den berühmten Boxern in der Überlieferungstabelle auch jene erwähnt werden deren Nachnamen nicht Chen lautet.

Bei den beiden Prozessen, die weiterführende Ausgestaltung der Familienstammbäume und dem Wiederaufbau des Ahnentempels wirkt sich das kollektive Gedächtnis überraschend auf die Selektivität der Klaneliten aus. Diese Klaneliten sind ausnahmslos alle aus dem Klan überlieferte Personen und Aristokraten die Chen Taijiquan praktizierten. Das zeigt das diese Art von Taijiquan Kultur tatsächlich im Klan Einfluss ausübt.

Um die Schriften des kollektiven Gedächtnisses zu bewahren riskierten die Klaneliten ihr Leben

Folglich schaute man sich im freien Gelände um und stellte gründlichen Untersuchungen an. Der Autor konnte anhand der Notizen des Familienratsvorsitzenden Herrn Chen Li Fa sehen, dass die Schriften der Familien Register während der Zeit der Kulturrevolution (1966-1976) fast vollständig Vernichtet wurden:

Während des Herbstes in der Kulturrevolution 1966 versammelten sich während der Kampagne „Zerschlagt die vier Alten Relikte“ [4] in den Dorfzentren eine große Anzahl von „Rotgardisten“, um die Familienregister zu verbrennen. Damals war Herr 陈亚民 Chen Ya Min (18. Klangeneration) als Anführer der Volksmiliz eingesetzt. Er stahl das Stammbaumregister, um es dem Kopf der Revolutionäre von der 27. Einheitsabteilung [5] Herrn 陈庆华 Chen Qing Hua (20. Klangeneration) zukommen zu lassen. Chen Qing Hua wiederum gab das Stammbaumregister an den angesehenen Herrn Chen Bo Xian (19. Klangeneration) weiter. Chen Bo Xian war zu jener Zeit gerade einer Denunzierung ausgesetzt und fürchtete wegen dem Stammbaumregister einen weiteren Fehler vorgehalten zu bekommen. Chen Bo Xian gab daher das Stammbaumregister wiederum an seinen Klanneffen 陈来定 Chen Lai Ding (20. Klangeneration) weiter. Chen Lai Ding wickelte das Stammbaumregister in eine Plastikfolie ein und bewahrte sie gut versteckt im Süßkartoffelkeller über mehrere Jahre auf: So blieb das Stammbaumregister bis nach der Kulturrevolution erhalten und lieferte Informationen für die Erneuerung des Stammbaumregisters im Jahre 1991.

Während der 10 Jahre Unheil wurde so das Stammbaumregister geschützt und die niedergeschriebene Geschichte konnte weiter überliefert werden. Chen Li Fa und 陈一华 Chen Yi Hua brachten dann bis zum Winter 1999 Ordnung in das Stammbaumregister.

Später erfuhr ich, dass viele Menschen, die am Schutz des Stammbaums beteiligt waren, verstorben waren. Durch einen Artikel in der Zeitschrift《武林》Wulin erfuhr der Autor, dass Chen Bo Xian wegen der Bewahrung des Stammbaumregister viermal entfliehen konnte, bevor er aus diesem Grunde von den Roten Garden fast todgeschlagen und sein rechtes Bein verstümmelt wurde. Später befand sich der Autor im Haus von Chen Yi Hua, dem dritten Sohn von Chen Bo Xian, und konnte das ursprüngliche《陈氏家谱》– „Chenklan Familienregister“ erblicken, wofür Chen Bo Xian fast sein Leben wegen diesem Original eingetauscht hätte. Dieses Klanregister ist nicht das Einzige was die Erforschung der Taijiquan Überlieferung Verfolgt und als historischer Nachweis fungiert. Das „Chenklan Familienregister“ ist auch Grundlage von vielen legendären Geschichten über Taijiquan Meistern aus den Familien. Für die Gegenwart stellt es weiterhin in der Erforschung der Taijiquan Kultur ein wertvolles Dokument dar.

Die Organisationselemente des Familienrats stützen sich auf die Lehrer-Schüler-Beziehung

Durch den Wiederaufbau des Ahnentempels und der Erneuerung der Familienstammbäume kann der Autor noch eine Tendenz aufzeigen. Es liegt nahe, dass das kollektive Gedächtnis bezüglich der Klaneliten die Existenz einer gezielten Selektion bestätigt; Andererseits haben wir auch die Wiederherstellung des Familienrates gesehen, obwohl er sich immer noch in einem verborgenen oder halb legalen Zustand befindet. Dennoch spielt der Familienrat hier aus traditionellen Gründen nur die Rolle eines Koordinators für öffentliche Angelegenheiten. Dabei handelt es sich um eine Bühne für „enthusiastische Eiferer“. Trotz der Kulturrevolution gibt es immer noch einige Klanangelegenheiten wo irgendjemand persönlich in Erscheinung treten muss. Daher gab es im inneren Kreis des Klans und im Familienrat scheinbar keine Veranlassung den Familienrat abzuschaffen. Ferner ist es dadurch nicht notwendig eine Prozedur zu etablieren um amtliche Angelegenheiten anlaufen lassen. Genau genommen sind der Wiederaufbau des Ahnentempels und die Erneuerung der Familienstammbäume zwei Ereignisse, die nur durch den Familienrat zustande gekommen sind. Der Familienrat hat zwar Macht, indem er die Überarbeitung der Familienstammbäume aus eigener Hand gestaltet und verfügt teilweise über die Autorität des Rederechts im Klan. Weiterhin wurde der Wiederaufbau des Ahnentempels mit einem geringfügigen Geldmittelüberschuss abgeschlossen und es standen Ihnen keine großen Störfaktoren entgegen.

Im Allgemeinen fällt die Organisation des Familienrates unterschiedlich aus. Es sind enthusiastische ältere Menschen die sich für die Familienklanangelegenheiten begeistern. Sie interessieren sich nicht für eine Wiederherstellung von Machtautoritäten. Sie interessiert ob die Überlieferung des Taijiquan in Chenjiagou, im Familieninternen Chenklan, fortgeführt werden kann. Es wird bereits früh versucht die jungen Menschen durch die organisatorische Kraft des Familienrates zum Erlernen des Taijiquan zu bewegen. Sie gewähren nicht nur den Unterrichtenden Subventionen, sondern belohnten auch die herausragenden. Diese schöne Vorstellung fand jedoch zu schnell ein Ende. Obwohl die Ergebnisse nicht zufriedenstellend waren, konnten wir dennoch klar sehen, dass diese Klanvorstellungen und -Aktivitäten nicht mechanisch wie in die Vergangenheit zurückgeführt werden können. Auch eine Art hohle Kopie davon ist nicht machbar. Es ist eher so dass von Anfang bis Ende eine Einzigartigkeit einhergeht und gleichzeitig eine „Gewöhnung“ an die Taijiquan betreffende Kultur folgt. Es sollte anerkannt werden, dass diese Art von endogener Organisation und kulturellen Elementen in den gegenwärtigen transformationsfreundlichen chinesischen Dörfern zweifellos eine extrem knappe Ressource darstellt.

In Chenjiagou erhalten die Kinder bereits im Kindergarten und in der Grundschule Taijiquan-Unterricht

Gemäß den Vorstellungen aus der Kampfkunstwelt haben einige Menschen diese sogenannten Traditionen angenommen. Plötzlich denkt man darüber nach die Überlieferung des Chen Taijiquan in Chenjiagou zu durchlaufen. Der Autor stellte nach sorgfältiger Untersuchung fest, dass die Überlieferungsbeziehungen innerhalb des Klans fast zufällig sind. Regeln wie „Überlieferung an Männern aber nicht an Frauen“ und „Überlieferung an interne und nicht extern Personen“ sind verbreitete Vorstellungen die eher von Außenstehenden erfunden wurden. Lange Zeit war den Chenklan Mitgliedern selbst nicht bewusst was ihnen angedichtet wurde. Zwischen Männer und Frauen wird stattdessen kein Unterschied gemacht“. Diese Perspektive zeigt, dass der Weg der Übertragung von Lehrer zum Schüler bereits schon früh die Grenzen der Blutverwandtschaftlichen Beziehungen durchbrochen hat. Seit einigen Hundert Jahren hat es innerhalb der Überlieferung im Chenklan von Chenjiagou für eine Person mehrere Lehrer gegeben. Sogar die Leute von der älteren Generation holten sich mitunter Unterweisung von der jüngeren Generation, auch wenn dies eher selten vorkam. Später war es lediglich eine Notwendigkeit um das Taijiquan an außenstehende zu überliefern. Chen Box Xian schrieb dies anhand der Erinnerungen der alten Leute in seiner Schrift《太极拳名人传递表》– „Berühmte Taijiquan Praktiker und die Tabelle der Überlieferungen“ nieder. Daher kommt es in Chenjiagou bei der Auswahl der Meister manchmal um deren Willen dazu den Bedarf an sozialen Ressourcen zu erweitern. Unter dieser Prämisse ist die Mehrheit der Menschen bereit, sich selbst die Blutsverwandtschaft von anderen Menschen zuzuschreiben, um ihnen näher zu stehen. Durch die Informationen aus der Chenklan Genealogie verfügen wir über Materialien zu den Wechselbeziehungen. Wir können dadurch einigermaßen klar verstehen wie die Hierarchien von den Klaneliten der Meister und Hierarchien in den Blutsverwandtschaften der Klanfamilien [6] aussehen bzw.  wo sie mehr oder weniger Parallelbeziehungen aufweisen. Das ist bei den Anhängern des „Großer Rahmen“ und „Kleiner Rahmen“ [7] im Verlaufe der Zeit und in deren Blutsverwandtschaftlicher Verteilung so gewesen. Die endogene Kraft für die Überlieferung des Taijiquan besteht in diesem Klan darin, dass der König des Klans in mehrere Verzweigungen des Klans enthalten sein muss. Es ist also in den Familienklans eine Art anhaltende kulturelle Gewohnheit in der Familiennachfolge. Doch die Faktoren für das Schicksal der Lehrer – Schüler Beziehungen hängen nicht nur von der Blutsverwandtschaft ab. Das Beweist dass die Lehrer – Schüler Überlieferung einen „Personenkreis“ herausbildet, der erkennen lässt, dass eine Art außerordentliche Struktur der sozialen Beziehungen entstanden ist in welche die Überlieferung von Lehrer zu Schüler, ganz natürlich, mitunter die Grenzen der Blutsverwandtschaft übersteigen lässt. Eine tiefe Analyse des Ahnentempels und der Familienstammbäume liefern dafür eindrucksvolle Beweise.

Im Verlaufe der Geschichte muss es bei den Klaneliten zu Veränderungen in den Organisationsformen gekommen sein, um zu dem erforderlichen sozialen Kapital zu gelangen (Bsp. keine eigenen Kinder die das Erbe weiter Tradieren). Wenn man daher die Taijiquan Kultur so betrachtet, dass sie ihren Ursprung im Klaninneren hat und ihre Stärke aber durch das Überschreiten der Klangrenzen aufzeigt so entstehen viele neue soziale Organisationsformen, die den Klan umgeben unter dem Schlagwort: „Klanübergreifend“. Wie lässt sich so etwas Lokalisieren? Sozialwissenschaftler die sich mit der traditionellen chinesischen Gesellschaft beschäftigen befürchten daher, dass sich mehr und mehr die innere Geschlossenheit auflöst, wodurch weiter Diskussionsdimensionen hinzukommen werden?

Diskussion

Erstens, wir können annehmen, dass die Gedenkstätten, die sich auf den Tempel der Chenfamilie und die Genealogie von Chenjiagou konzentrieren, selektiv sind. Die Materialien des einzigartigen und selektiven kollektiven Gedächtnisses, das sie geerbt haben, weist auf dasselbe im Mittelpunkt stehende Chen Taijiquan und deren Klaneliten plus ihre Aktionen durch das selektiv, kollektive Gedächtnis hin und müssen ebenfalls um dieses kulturelle Zentrum herum entwickelt werden.


Zweitens, wurden in Chenjiagou die Maßnahmen des Chenklans zum Wiederaufbau des Ahnentempels und die Fortsetzung der Familienstammbäume mit offizieller Zustimmung oder sogar Unterstützung durchgeführt, was in dieser lokalkonservativen Umgebung äußerst selten ist.  Obwohl dies bis zu einem gewissen Grad auch als Konsens zwischen Regierung und Volk angesehen werden kann, darf dies aber nicht einfach als Anerkennung der Ahnenverehrung verstanden werden, weil diese einer Art Blutlinienüberlieferung folgt die zusätzlich wie oben erwähnt durch eine psychologische Struktur und durch geografische Beziehungen aufrechterhalten wird. Darüber hinaus gibt es noch eine Art Taijiquan Kultur, die seit hunderten von Jahren Überliefert und Transformiert wird. Man kann sagen, dass es zwischen den offiziellen Behörden und der Bevölkerung einen Konsens gibt. Dieser geht aus einer Art kulturellem Erbe hervor was auf eine historische Inspiration zurückgeht. 刘峻骧 Liu Jun Xiang meint dazu: „Die Kulturelle Erziehung des menschlichen Körpers ist die Mutter der Zivilisation, sowie Vorbote und unabwendbares Ende zugleich“. Daher kann man sagen, dass diese historische Form der Überlieferung des Taijiquan im Chenklan besser als eine Art Wurzel für das „kulturelle Netzwerk“, was daraus hervorgegangen ist, zu beschreiben ist. Der Klan und sowohl die offiziellen Behörden streben danach dieses prominente Kulturerbe zu infiltrieren und in Besitz zu nehmen, was zum einen dem „kulturelle Netzwerk“ Autorität verleiht. Andererseits gibt es auch Vorteile durch die legitime kulturelle Autorität der Regierung. Heute ist dieses Umfeld für die Überlieferung und das Propagieren der Taijiquan Kultur von Vorteil, aber ein übermäßiges Streben nach unmittelbarem Nutzen hat bereits ein gewisses Maß an zerstörerischer Kraft offengelegt.

Letztendlich, wurden durch die vergangenen Aktivitäten der „Großen Gemeinschaft“ [8] die materiellen Elemente, auf die sich das kollektive Gedächtnisses des Klans stützt im Wesentlichen zerstört. Die Lehrer – Schüler Überlieferung im Taijiquan von Chenjiagou stellt eine innere Beziehung dar die einen tiefen Zusammenhalt der kulturellen Zugehörigkeit aufzeigt. Dies hat den Charakter der althergebrachten Klan Organisation verändert. Um den Charakter ausreichend zu verändern bedarf es einer Akzeptanz innerhalb der Blutsverwandtschaften. Die Entwicklung des Klans hat eine einzigartige endogene Spannung durchlaufen. Vielleicht unterliegt die Analyse der Traditionen des Klans einem theoretischen Rahmen von Paradigmen. Einige Wissenschaftler haben dafür Vorschläge zu Familienklan Typen vorgebracht. Darunter befinden sich die Typen „Religiös geprägter Familienklan“, „natürlicher Familienklan“, „wirtschaftlich geprägter Familienklan“, „Blutsverwandtschaftlicher Familienklan“ oder der von 郑振满 Zheng Zhen Man beschriebene „Vertragsstil Familienklan“. Der Chenklan in Chenjiagou ähnelt jedoch mehr einem „kulturellen Klan“. Genauer gesagt wird im Klan eine Art traditionelle Sportkultur sichtbar. Gleichfalls erzeugt das Taijiquan im Leben der ländlichen Gebiete eine unersetzliche anhaftende historische Verbindung. Dies ist ein ganz besonderer Fall der nicht verallgemeinert werden kann. Wir befinden uns gegenwärtig in einer gesellschaftlichen Umstrukturierungsphase und es stellt sich die Frage ob wir es auslöschen lassen oder weitere lokalsportliche Kulturressourcen ans Tageslicht bringen? Insbesondere sind dies jene die im Stande sind aus ihren „Kleinen Gemeinschaften“ [9] heraus etwas Schöpferisches nach außen zu bringen und über die kulturellen Elemente eine Kraft des inneren Zusammenhalts besitzen. Dies scheint vergleichsweise einfacher, als nur eine Sportkultur selbst zu fördern. Wie man in der neuen Zeit eine neue harmonische, sozialistische Dorfgemeinschaft aufbaut hat bei allen Problemen mit denen China konfrontiert ist oberste Priorität.


[1] Die Aussage Theoretiker wurde offenbar aus anderen Quellen übernommen und bleibt umstritten. Bei Chen Xin handelte es sich um einen Kampfkunstpraktiker und Gelehrten zugleich. Seine Schriften zur Kampfkunst beruhen auf Erkenntnissen aus der eigenen Praxis, sowie Erfahrungen seines Vaters und seiner Brüder.

[2] 陈森 Chen Sen (1843-1926),alias 陈愧三 Chen Kui San war der zweite Sohn von 陈季甡 Chen Ji Shen und ein älterer Bruder von Chen Xin. Er ist der Vater von 陈椿元 Chen Chun Yuan. Im Alter schrieb er ein Familienregister nieder, was von Chen Chun Yuan, ebenso wie das Taijiquan, weitergepflegt wurde; Quelle: http://www.taijigen.com/Customer/Details/BE32A6B72DE6FDE1

[3] Leider fehlt hier die Quellenangabe und es bleibt weiterhin reine Spekulation was Tang Hao einst überhaupt erhalten hat und von wem? 陈淼 Chen Miao (1834—1868),alias 陈淮三 Chen Huai San war der erste Sohn von 陈季甡 Chen Ji Shen; Quelle: https://baike.baidu.com/item/%E9%99%88%E6%B7%BC/31507

[4] Gemeint waren die traditionell, Alt-Ein hergebrachten Denkweisen, Kulturen, Gewohnheiten und Sitten. Zu Beginn dienten sie, auf willkürliche Weise, der Beseitigung von politischen Gegnern Mao Zedong‘s. Später verselbstständigten sich jedoch die „Roten Garden“ und begannen eigenständig zu Agieren. Sie mussten später durch die Armee entwaffnet und aufgelöst werden.

[5] Im Text steht geschrieben 二七联司 Er Qi Lian Si, womit eine Organisationseinheit der Roten Garden gemeint ist

[6] Laut Interview mit Meister 陈沛山 Chen Peishan im April 2008 in Neapel verwies Herr Chen darauf dass diese Dinge häufig vermischt und nicht klar getrennt werden. Ein 家谱 Jia Pu – „Familien Register“ gibt die Vererbung in den Blutsverwandtschaften wieder, also wer ist der Vater von welchem Sohn. Dem entgegen gibt es das sogenannte 拳谱 Quan Pu – „Kampfkunstregister“ was hingegen die Übertragungslinie der Kampfkunst von Lehrer zu Schüler dokumentiert.

[7] Die Bezeichnungen „Großer Rahmen“ & „Kleiner Rahmen“ für das Chen Taijiquan gibt es erst seit ca. 1990. Diese Idee stammt von außerhalb des Chenklans und kann bis heute nicht genau erklärt werden.

[8] Im Text steht 大共同体 Da Gong Tong Ti – „Große Gemeinschaft“:  Ein Gedanke der alle Menschen (in China) als eine Einheit gesehen betrachtet.

[9] Im Text steht 小共同体 Xiao Gong Tong Ti – „Kleine Gemeinschaft“:  Damit sind die kleinsten sozialen Gebilde in China, die Dörfer und kleine Ortschaften gemeint.

J. Weinbrecht, vom 18.04.2021







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